"Willkommen in der Wüste des Realen": Wer hätte noch vor wenigen Jahren gedacht, dass man mit Zitaten von Jean Baudrillard ein internationales Millionenpublikum ködern könnte? Wenn derzeit rund um The Matrix Reloaded, das Medienereignis dieser Tage, Platos Höhlengleichnis, diverse Philosophen und Gehirnforscher zitiert werden, dann sieht man: Hollywood, von diversen Theoretikern wie etwa Slavoj Zizek genussvoll analysiert und dingfest gemacht, ist wie ein cleverer Trickdieb nicht zu fassen.
Wieder einmal ist die Unterhaltungsindustrie ihren Beobachtern ein paar Schritte voraus. Und The Matrix Reloaded, wo sich ein Trupp religiöser Widerstandskämpfer im Kampf gegen terroristische Maschinen auf Konfrontationen in einem Netz virtueller Räume einlässt, dieser Film, der zweite einer Trilogie, wirft ungewöhnlich offensiv ein ganzes Netz an Deutungsmöglichkeiten über seine potenziellen Besucher und Rezensenten, bis gegen Ende der Superheld "Neo" auf einen Architekten der Matrix trifft, der Sigmund Freud ähnelt.
Ein breites Feld für Projektionen (nicht nur im Kino) tut sich auf. Der Medientheoretiker kommt ebenso auf seine Kosten wie der Trash-Liebhaber. Der Comicfan ergötzt sich an den Designs des Kult-Illustrators Geof Darrow (Hard Boiled), während Speedmetal-Fans mit einschlägigen Soundtracks verwöhnt werden. Am verblüffendsten aber ist, dass die Matrix-Produzenten ganz offenkundig genau das thematisieren, was sie eigentlich selbst praktizieren: eine Technisierung und Ökonomisierung der Produktion von Bildern, in denen menschliche Akteure zu Komparsen werden:
Hauptdarsteller des Films sind jene Computerprogramme, die nur noch einiger Tausend hochauflösender Bilder von so genannten Stars (Keanu Reeves, Carrie-Anne Moss, Laurence Fishburne) bedürfen, um daraus Superhelden zu generieren. 70 Seiten umfasst im Presseheft zu The Matrix Reloaded allein die Auflistung jener Computerexperten, die diese Programme bedienen.
Die "Wüste des Realen" hingegen, also die tatsächliche Arbeit, bestand für Reeves und Co. lediglich aus endlosem Spiel ins Leere: Vor riesigen Blue Screens, in die bombastische Hintergründe nur noch eingespeichert werden müssen; eingezwängt in Latexkostüme, die ebenfalls digital veredelt werden; von Schnürböden herabhängend, um Ausgangsmaterial für endlose Flüge durch die "Matrix" zu bieten. Die oft befürchtete Möglichkeit, Menschen demnächst nur noch auf Material für Bild- und Bewegungsdatenbanken zu reduzieren, ist damit endgültig Tatsache. Und gleichzeitig eine Fiktion, an der wir uns wie an einer düsteren Prophezeiung nicht satt sehen können. Es ist ein ähnliches Phänomen wie rund um 1984 zu beobachten war: Klar, die Verfügbarkeit des Einzelnen wird immer prekärer, aber eine wunderbare Geschichte ergibt das eben auch.
Von den Filmemachern Larry und Andy Wachowski erfährt man derweilen, dass sie Experten für Nietzsche und Hesse sind und ihren Angestellten Baudrillard zur vorbereitenden Lektüre empfahlen. Persönlich äußern sie sich dazu aber nicht. Interviews gab in Cannes vor allem der Produzent des Spektakels, Joel Silver. Im Vertrag der Wachowskis steht nämlich, dass sie als Fadenzieher und Arbeitstiere lieber im Hintergrund agieren: Eine denkwürdige Umpolung im Umgang mit kreativer Leistung findet statt.