Im Vorfeld der russischen Parlamentswahlen gegen Ende 2011 und der im März 2012 fälligen Präsidentschaftswahl wächst die politische und wirtschaftliche Unsicherheit, ob der im In- und Ausland als sympathischer und reformwilliger Politiker betrachtete Dmitri Medwedew wieder antreten wird. Der russische Finanzminister Kudrin sagte kürzlich, Investoren zögen ihre Gelder aus Unsicherheit ab. In den ersten vier Monaten stieg die Kapitalflucht auf 30 Milliarden Dollar. Nach einer Umfrage des Institutes Wziom ist im vergangenen Jahr erstmals wieder die Zahl der ausgewanderten Russen gestiegen. Derzeit sei jeder fünfte Russe ein potenzieller Emigrant.

Vor diesem Hintergrund sprach sich Präsident Medwedew in seiner groß angelegten Rede vor internationalen und russischen Geschäftsleuten in St. Petersburg für eine radikale Privatisierung und für den Rückzug des Staates, für eine härtere Gangart im Kampf gegen die Korruption und für eine Reform des Justizsystems aus. "Die berühmte Stabilität könnte eine weitere Periode der Stagnation verdecken", warnte Medwedew. Mit seiner Rede und in einem langen Interview mit der Financial Times setzte sich der Präsident klar von Vladimir Putin ab - in seinem Stil, aber auch in seinen Prioritäten. Mit seinen jüngsten Feststellungen antwortete er indirekt Michail Gorbatschow, der ihn Ende 2010 in einem offenen Brief aufgefordert hatte, 2011 als das Jahr der "neuen Agenda" im Zeichen der Modernität und Offenheit zu gestalten.

In krassem Gegensatz zur Medwedews Reformfreudigkeit warnte Ministerpräsident Putin wiederholt und auch in seinem letzten Rechenschaftsbericht vor "unüberlegten Experimenten, die auf einem mitunter ungerechtfertigten Liberalismus oder einer sozialen Demagogie gründen". Indessen ist die Zahl der russischen Milliardäre in der Putin-Ära von sieben auf 101 gestiegen und Russland Dank der "Tyrannei der Inkompetenz" des Staatskapitalismus (so der Ökonom Wladimir Inozemzev) so korrupt geworden wie Sierra Leone oder die Demokratische Republik Kongo.

Trotz der Unzufriedenheit wegen der Allmacht einer korrupten Bürokratie und der schamlosen Bereicherung der mit der Machtclique verbundenen Oligarchen ist Putins alles überragende Machtposition bei den Wahlen kaum gefährdet. Alle Umfragen zeigen nach wie vor die Sehnsucht der Mehrheit nach dem starken Mann. So lanciert Putin bereits jetzt eine "allrussische Volksfront", deren Gliederungen, von den Gewerkschaften bis zu den Frauenverbänden, sich mit der Regierungspartei "Einiges Russland" zu einem nationalen Bündnis von Gleichgesinnten zusammenschließen sollen.

Dass der seit 2003 inhaftierte, vom Milliardär zum mutigen Reformer gewordene Michail Chodorkowski in einem zweiten Prozess zu 13 Jahren Haft verurteilt wurde, weil er das gesamte Öl (347 Millionen Tonnen!) seines eigenen Konzerns gestohlen haben soll, löste weltweit Empörung aus. Die absurden Vorwürfe hatten selbst frühere Minister widerlegt. Dieses kafkaeske Verfahren erklärte Chodorkowski vor kurzem in einem Interview mit der Tatsache, dass Putin ihn zu seinem persönlichen Feind ernannt habe. Deshalb dürfte sein Schicksal das Symbol der Machtrealitäten in Russland bleiben. (Paul Lendvai /DER STANDARD, Printausgabe, 21.6.2011)