Bild nicht mehr verfügbar.

Julya Rabinowich, geb. 1970 in Leningrad, ist österreichische Schriftstellerin und Dolmetscherin. Sie kam 1977 aus der Sowjetunion nach Wien, studierte Dolmetsch an der Universität Wien und von 1998 bis 2006 an der Universität für Angewandte Kunst, Schwerpunkt: Malerei und Philosophie. Seit 2006 arbeitet sie auch als Dolmetscherin für Flüchtlinge, u. a. für das Integrationshaus Wien. 2011 erschien ihr Roman "Herznovelle" (Deuticke). Rabinowich liest Anfang Juli beim Bachmannpreis in Klagenfurt.

Foto: APA

Wie es ist, wenn man Kinder mithat, die man in Sicherheit bringen möchte? Alte? Kranke?

Ich frage mich, wie es ist, ein Flüchtling zu sein. Nein, eigentlich frage ich mich das nicht mehr. Die, die mit Flüchtlingen Kontakt hatten, wissen es ohnehin, und jene, die Flüchtlinge per se als Wirtschaftsmigranten und Sozialschmarotzer wahrnehmen, ohne zu differenzieren, jene, die sich aufhetzen lassen, um billige Sündenböcke zu suchen und anzunehmen und mit diesen Sündenböcken die wirklichen Probleme natürlich nicht zu lösen, und auch jene, die damit gutes Geld verdienen, unmenschliche Entscheidungen rechtlich exekutierbar zu machen, jene, die NGOs mit mehr als fadenscheinigen Begründungen von Asylsuchenden fernhalten, um leichteres und abgekartetes Spiel zu haben, jene wollen es ohnehin nicht wissen.

Ich frage mich stattdessen, wie viel Chuzpe es braucht, mit der ansonsten mit Füßen getretenen Privatsphäre der Asylsuchenden zu argumentieren, um ihnen menschenunwürdige Zustände unentrinnbar zu gestalten. Ich kann mich gut daran erinnern, was für Alltäglichkeiten - zwei Zahnbürsten für eine fünfköpfige Familie, Brot mit Zwiebel zum Abendessen, schimmlige Kellerräume für Bettlägerige - in manchen völlig legal betriebenen Flüchtlingspensionen herrschten. Fälle, die es schlussendlich nur aufgrund der recherchierenden NGOs in die Medien schafften, was zu der längst fälligen Schließung mancher Betriebe führte. Das will man heute scheinbar lieber nicht zu genau wissen.

Ich frage mich also nicht mehr, wie es ist, ins absolut Ungewisse aufzubrechen, alles das, das vertraut war, zurückzulassen, nicht aus freiwilliger Entscheidung, nicht aus hochfliegenden Zukunftsplänen. Wie ist es wohl, wenn der einzige Zukunftsplan "hoffentlich überleben" heißt? Will man das wissen? Wie es ist, wenn man Kinder mithat, die man in Sicherheit bringen möchte? Alte? Kranke?

Wer von ihnen wird wohl auf der Strecke bleiben, für wen werde ich mich eventuell entscheiden müssen, die alte Mutter? Das kleine Kind? Mit Auszählreim? Wie ist das, wenn die Kapazitäten, die Familie zu retten, einfach nicht für alle reichen? Knobelt man um den Platz im Zug? Um die letzte Wasserration? Viele Kinder sind in den vergangenen Jahren auf ihrem Fluchtweg nach Österreich, nach Europa, ums Leben gekommen. Verhungert, ertrunken, erfroren.

Einige sind schon beim Versuch, die Grenzen zu queren, im Ursprungsland getötet worden. Es wird gezielt in Flüchtlingskonvois geschossen, Flüchtlingszüge werden hinterhältig angegriffen, obwohl klar ist, dass es sich da um Zivilisten auf der Flucht handelt.

Ein billiges Exempel. Selten zieht so eine Vorgangsweise ein Kriegsverbrechertribunal nach sich, obwohl es sich hier offensichtlich nur um eines handelt: um ein Verbrechen wider die Menschheit.

Über Stock und Stein

Ich frage mich nicht mehr, wie es ist, ein Mensch auf der Flucht zu sein, denn ich habe diese Geschichten wieder und wieder gehört, vier Jahre lang dreimal die Woche, von Kindern, von Frauen und Männern, von Alten, die ihre ganze Familie überlebt hatten, durch Zufall, durch sogenanntes Glück, das von den Betroffenen oft nicht als Glück, sondern als bittere Ironie, als Strafe, als Fluch gesehen wurde, mit Bildern der Verstorbenen, die sie nächtens quälten, mit Selbstvorwürfen während des Tages.

Wie geht es wohl einer Mutter, die mit ihrem Mann und den drei Kindern Punkt A des großen Flüchtlings-Mensch-ärgere-dich-nicht verlässt und bereits auf halbem Weg nach Punkt C in einen Hinterhalt gerät, Figur 2, 3 und 4 verlassen die Spielfläche im Bombenhagel. Die zwei verbliebenen Figuren dürfen weiterziehen. Zu Fuß. Über Stock und Stein und Schnee und Waldwege.

Ob man eine Doppelsechs würfelt beim Asylantrag ist auch nicht wirklich klar, denn Gründe gibt es zwar, aber leider nicht immer so viele Beweise. Ihr einziger Beweis ist der Weg, die Finsternis, die Angst. Die vielen, vielen Schritte auf unbekanntem Boden. Sie hat sie nicht alle gezählt.

Und diesen Weg wird sie dann in Österreich wieder und wieder und wieder beschreiben müssen, und wehe, es unterläuft dabei ein kleiner Fehler, eine Unstimmigkeit, eine abweichende Angabe, denn dann wird sie als Lügnerin hingestellt, als eine, die den Staat in hinterlistiger Art und Weise schädigen wollte durch die Rettung ihres nackten Lebens, und anders als für Karl-Heinz Grasser wird keine Unschuldsvermutung gelten, heute nicht, morgen nicht, und schon gar nicht für das traumatische Gestern.

Wie soll sie beweisen, dass ihr Mann neben ihr gestorben ist? Sie hat keine Todesanzeige. Buchstaben haben mehr Gewicht als gesprochenes Wort, und noch mehr Gewicht hat ein passender Stempel. Die Wucht, mit der er auf das geheiligte Papier gesetzt wurde, ist wuchtiger als jeder Schicksalsschlag. Und so sitzt sie da und übt, das Grauenhafte, das Unbegreifliche zu erzählen, ohne einen Fehler, zwingt sich, sich genau zu erinnern, wie das war: wo sie gestanden ist. Wo ihre Tochter. Wo das Auto, das von der Bombe getroffen worden ist. Die Tochter wird übrigens ebenfalls gezwungen, ihre Sichtweise zu wiederholen und sich genau zu erinnern, wie der Bruder starb, wie der Vater, die ältere Schwester. Zu wem sie gelaufen ist. Wo genau sie unter der Autobahnbrücke stand, an deren Betonwände sie sich für immer erinnern wird, diese poröse graue Oberflächenstruktur der Wand, an die sie von der Druckwelle geworfen wurde, ist ab sofort und für immer der Hintergrund ihrer Innenschau, eingebrannt auf der Rückseite ihrer Lider, sobald sie sich schließen, sieht sie wieder die Wand, hört das Kreischen von Metall auf Metall, und dann die lange, lange Stille. Sie wird nicht urteilen können, was schlimmer war, das Laute oder das Lautlose.

Das Laute wird sie einholen, überall, auch in der vermeintlichen Wiener Sicherheit, sie wird keine Autobahnunterführung betreten können, weil ihre Knie Meter davor nachgeben werden, und wenn eine U-Bahn in der Nähe vorüberfährt, wird sie oft ohnmächtig werden. Das Lautlose aber wartet auf sie, sobald sie sich schlafen legt, das Hinlegen ist gefährlich, es erinnert an Liegenbleiben, hinter den geschlossenen Lidern sammeln sich die Bilder, um sich zu Dantes privatem Inferno zusammenzubrauen, sie geht also nicht mehr schlafen, um dem zu entkommen, und schlafwandelt tagsüber, da die Kräfte sie verlassen.

Je weniger sie schläft, umso unkonzentrierter werden ihre Schilderungen, sie fürchtet sich bereits Monate vor ihrem Gerichtstermin, der Therapeut wird ihr Beruhigungsmittel verschreiben, die einen feinen grauen Nebel legen zwischen sie und die graue Betonwand, aber sie fürchtet diesen Nebel fast ebenso sehr wie die Nacht und den Schlaf, weil sie zu Recht spürt, dass ihre Schilderungen weniger präzise ausfallen könnten. Die Präzision aber ist das, was den Tod der Familienmitglieder nicht völlig sinnlos machen wird, denn welchen Sinn hätte es wohl, wenn sie nicht einmal das letzte Kind in Sicherheit bringen könnte mit besonders genau gesetzten Worten? Diese Worte werden es sein, die gemessen, gewogen und für eventuell genügend befunden werden müssen.

Diese Worte sollen ihre Schritte beweisen, die vielen, vielen Schritte durch Europa, sie hat vergessen, wie viele es waren, wie viele Tage, und das ist gefährlich. Sie war so lange unterwegs und ist doch immer nur in jener Autobahnunterführung gewesen, aber wenn sie das sagt, gibt es nichts zu kartografieren. Dann hat ihr Weg nicht stattgefunden. Damit verfällt ihr Recht auf Sicherheit.

Ich frage mich nicht mehr, wie das ist, wenn sie nächtens über einen Atlas gebeugt sitzt und mit dem Finger immer wieder von neuem sinnlose Linien zieht, über Berge und Flüsse, über Staatsgrenzen hinweg, so ist das schnell und problemlos möglich, und sie folgt dem Finger mit den Augen und rezitiert dabei die Länder, die sie betrat und wieder verlassen hat, penibel in der richtigen Reihenfolge, während das Kind schläft, oder so tut, als würde es schlafen, vielleicht geht auch die Tochter die Wegstationen durch, immer und immer wieder, den Abstand zum Vater, die Tage nach dem Verlust des Bruders. Das sind die Augenblicke, wenn Worte mehr als Leben und Tod wiegen.

Ich frage mich, wie man dazu schweigen kann.   (DER STANDARD, Printausgabe, 18./19.6.2011)