"Bildung ist ein schönes Ideal - aber kein Ideal unserer Gesellschaft", schrieb Robert Menasse unlängst. In der öffentlichen Diskussion wird geflissentlich verschwiegen, dass die Grundstruktur des österreichischen Bildungssystems noch immer aus dem 19. Jh. stammt und nach wie vor ständischen Charakter hat, was zur Folge hat, dass der Bildungsgrad der Kinder in der Regel von Generation zu Generation weitervererbt wird. Akademiker hat Kind, das wieder Akademiker wird. Arbeiter hat Kind, das wieder Arbeiter wird. Dies zeigen die österreichischen Bildungsstatistiken.

In Österreich wird derzeit die wichtigste Selektion der Bildungslaufbahn noch immer am Ende der Volksschule vorgenommen, wo die Kinder selber noch nicht entscheiden können, welche Bildungslaufbahn sie einschlagen sollen, sondern wo dies eben die Eltern entscheiden und wo somit das Erbmotiv schlagend wird. Eine Studie der Bertelsmann-Stiftung "Soziale Gerechtigkeit in der OECD" reiht Österreich beim gerechten Zugang zur Bildung unter 31 OECD-Staaten nur auf Platz 24.

Die Verteidiger des bestehenden ständischen Systems aus dem 19. Jh. setzen auf Differenzierung, Selektion und Elitenförderung - von den 10-Jährigen bis zu den Uni-Absolventen. Diese Politik hat derzeit deswegen größere Durchsetzungschancen, weil sie durch die neoliberale EU-Fiskalpolitik (EU-Geldpolitik mit Defizitverbot) unterstützt wird, die dazu führt, dass der von der EU und IWF ausgehende Sparzwang so gut wie keinen finanziellen Spielraum für eine Gesamtreform des österreichischen Schulsystems gestattet.

Die Kehrseite dieser auf sehr frühe Selektion der Jugend ausgerichteten Bildungspolitik ist der wachsende Bildungsnotstand der unteren 50 % unserer Bevölkerung und der Migrantenkinder. Egal ob Sprachkenntnisse, Wirtschaftswissen, Berufswissen oder politische Bildung - es mangelt an allem, und das angesichts einer rasch zusammen wachsenden Welt voller Probleme, deren Lösung vor allem Bildung voraussetzt.

Die österreichische Regierung hat das "Jahr der Bildung 2011" ausgerufen. - Aber die von der SPÖ versprochene "große" Schulreform kommt und kommt nicht. Statt "Reform" ist ja seit 20 Jahren großkoalitionär nur mehr "Sparen" angesagt - ausgenommen bei der Banken-, Bauern- und Exportstützung. Die neoliberale EU-Fiskalpolitik mit ihrem Defizitverbot und der davon ausgehende Sparzwang gestatten keinen finanziellen Spielraum für qualitativ-expansive Reformen im Bildungs- und Sozialbereich.

Seit 2 Jahrzehnten werden unter Berufung auf die ausgabenseitigen Sparzwänge die öffentlichen Bildungssysteme latent unterfinanziert und ausgehungert. Frau Min. Dr. Schmied kann daher ihre am Sozialstaat orientierten Schulreformvorhaben (Ausbau der Vorschulerziehung und der Ganztagsschule, Gesamtschule) mangels an Geld gar nicht umsetzen. Die von der Öffentlichkeit zu Recht erwartete hinreichende Finanzierung des Bildungssystems sowie der Bildungsreformen scheitert am Widerstand der hiesigen fundamentalistischen Reformgegner aus der ÖVP, unterstützt von einer fundamentalistisch-restriktiven EU-Fiskalpolitik (Maastricht 1991).

Unter "Reform" verstehen die Neoliberalen "Sparen" beim Staat und seiner Verwaltung und die Durchsetzung von ordnungspolitischen Maßnahmen zur Anpassung des Bildungssystems an die "Wettbewerbsgesetze des Marktes". Die Lissabon-Strategie der EU aus dem Jahr 2000 verfolgte das Ziel, den "Wettbewerb" auch in die Schulen zu tragen, um die EU bis 2010 (!) zur "wettbewerbsfähigsten Wirtschaft der Welt" zu machen.

Die Kombination von neoliberaler EU-Fiskal- und EU-Wettbewerbspolitik hat mittlerweile zu einem quantitativen und qualitativen Rückbau der europäischen Bildungssysteme geführt. Die Freiheit zu lernen und der Zugang zur höheren Bildung werden unter Berufung auf ausgabenseitiges Sparen immer weiter eingeschränkt. Ob an den Unis oder an den höheren Schulen: Überall in der EU bemerkt man latente öffentliche Unterfinanzierung, Zugangsbeschränkungen und eine pseudopädagogisch argumentierte Übertragung betriebswirtschaftlicher Strategien, Methoden und Termini auf das Bildungssystem mit dem Ziel, den Bildungssektor der finanziellen und organisatorischen Kontrolle der Wirtschaft zu unterwerfen, für marktgerechte Wissensinhalte und eine "arbeitsmarktgerechte" Selektion zu sorgen. Die Frage, welches Wissen der Einzelne und die Gesellschaft an sich brauchen und wie dieses Wissen kreiert wird, wird den sog. "Marktanforderungen" geopfert und tritt immer mehr in den Hintergrund.

Der Bologna-Prozess führte zur Verschulung der Universitäten und bedeutet das Ende der humanistischen Humboldtschen Universitäts- und Bildungsidee. Aber auch im sekundären Bildungsbereich (AHS, BMHS) wird analog dazu die Lernfreiheit fortan drastisch eingeschränkt. Die Matura wird zentralisiert (die ÖVP wollte nach der 8. Schulstufe sogar noch eine zusätzliche Zwischenmatura einführen), die Bildung wird standardisiert und die Einhaltung der Standards getestet. Der standardisierte Test, Pauken und "Learning to the test" sind angesagt - wie in den autoritären Bildungssystemen Ostasiens - nicht Diskutieren, Reflektieren, Schreiben, Denken und Kreativ-Sein wie bisher.

"Uni brennt!", riefen die österreichischen Studenten vor 2 Jahren. Als Ausweg aus dem selbst herbeigeführten Chaos lässt die EU die Zugangsbeschränkung zu den höheren Schulen und den Universitäten zu. Immer mehr Selektionshürden in Form von Aufnahms- und Zwischenprüfungen sollen den "Massenansturm" auf die AHS und auf die Universitäten eindämmen helfen bzw. den offenen Zugang zur höheren Bildung abschaffen. Oder die EU schlägt vor, die öffentliche Finanzierung des Bildungssystems allmählich durch private Finanzierungsquellen (Drittmittel, Studiengebühren) zu ersetzen. Arme öffentliche Schulen sollen durch reiche Privatschulen ("Eliteschulen") ergänzt werden. Das Einkommen der Eltern soll anscheinend fortan den Bildungsgrad der Kinder bestimmen. Der wirtschaftsliberale Traum vom "schlanken" Minimalstaat mit einem elitären Bildungssystem, basierend auf öffentlicher Armut und privatem Reichtum, steht im diametralen Gegensatz zum egalitär-demokratischen Bildungssystem des europäischen Sozialstaats. 

Der große Bildungsnachholbedarf bei den Unterschichten beunruhigt seit langem nicht nur die Wirtschaft, sondern auch Human Rights Watch: In Österreich herrscht eine paranoide Einstellung zur Welt vor. Fremdenangst, Islamphobie, Kulturkampfgeschrei und dumpfe nationalistische Ressentiments sind hier bekanntlich seit 20 Jahren sehr populär. Im innenpolitischen Hinuntertreten auf die Migranten und Asylanten äußert sich eine grundsätzliche Unsolidarität mit den Armen und politisch Verfolgten der Welt von heute. Der Rückbau der Menschenrechte ist die Machtbasis der hiesigen Rechtsparteien.

Der Bildungsnotstand reicht inzwischen bis zu den Eliten hinauf. Veraltete Denkstrukturen, überholte Geschichtsbilder, Gesellschaftsbilder, Politik- und Kulturbegriffe werden unreflektiert weitertradiert. Die öffentlichen Diskussionen in Politik und Medien zeigen daher, dass die österreichische Gesellschaft an einem eklatanten diskursiven Notstand leidet. Die Debattenkultur der abgeschotteten Elite hierzulande ist operettenhaft-populistisch, der Antiintellektualismus der medial umworbenen Seitenblicke-Gesellschaft beängstigend. In unserer Gesellschaft findet kein politischer Diskurs außer dem Budgetspar- und Anti-Ausländerdiskurs mehr statt. Der Populismus verhindert einen nationalen Konsens in der Bildungsreform und in der Migrationsfrage. Die vielbeklagte Entscheidungsunfähigkeit und Untätigkeit unserer Regierung basiert in Wirklichkeit auf einer Lähmung der gesamten Gesellschaft. 

Die ausbleibende Bildungsreform erzeugte so in Österreich auch einen ausgeprägten Bildungspopulismus, der als "Reform" fordert, die Selektion sowohl der SchülerInnen als auch der LehrerInnen immer weiter zu verschärfen. Die Bildungsdiskussionen im ORF verlaufen immer nach demselben Muster: Zuerst werden die Strukturen des Bildungssystems problematisiert, bis die anwesenden ÖVP-Bildungspopulisten Veto einlegen und sagen: "Wir brauchen eh keine Strukturreform, es kommt doch vielmehr darauf an, was an den Schulen passiert! Die Schulen entscheiden über die Qualität der Bildung!" Und wenn es dann um die Struktur der Schulen geht, sagen plötzlich dieselben „Experten": "Entscheidend ist, was in der Klasse passiert! Es kommt nur darauf an, ob wir gute Lehrer haben!" Und dann wird nur mehr über die LehrerInnen gewitzelt und hergezogen. Bei diesem nationalen "Bildungskonsens" endete bislang fast jede Bildungsdiskussion im ORF.

Mittlerweile organisiert sich auch in Österreich zögernd die Zivilgesellschaft - jenseits der von den Neoliberalen beherrschten staatlichen Institutionen und Parteien - und fordert ein modernes, weltoffenes, demokratisches Bildungssystem für Österreich. Eine zukunftsweisende Schul- und Bildungsreform kann sich ja nicht darin erschöpfen, überkommene elitären Strukturen zu konservieren, die gestiegenen Bildungsansprüche durch ständig neue Prüfungen und Auslesemechanismen abzuwehren, die Bildung im Sinne des Marktes zu standardisieren und insgesamt der Selektion den Vorrang vor der Qualifikation zu geben.

Die neoliberale Bildungsreform, welche Bildung unter dem Titel der Erziehung zum "Wettbewerb" letztlich der Gewinngier der Marktradikalen opfert, wird letztlich genauso scheitern wie die Lissabon-Strategie der EU ökonomisch schon gescheitert ist. Es muss vielmehr das Bildungsniveau der gesamten Bevölkerung wesentlich angehoben werden! Das Bildungsvolksbegehren „Österreich darf nicht sitzen bleiben!" fordert Hochschulqualifikationen für 40% eines Jahrgangs bis zum Jahr 2020. Die Qualifikationsfunktion des Bildungssystems muss wieder Vorrang vor der Selektionsfunktion bekommen. 

Angesichts dieser Aufgabe zeigt sich, wie abwegig die auf österreichischer und europäischer Ebene betriebene Fiskal- und Bildungspolitik ist. (Leser-Kommentar, Anton Brandner, derStandard.at, 20.6.2011)