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Das Ego von Libyens Ex-Außenminister Mussa Kussa gab den Ausschlag fürs Desertieren, verrät ein französischer Geheimagent.

Foto: Jerome Delay/AP/dapd

Sein Name sei X. So stellt sich der freundliche Franzose nicht selber vor, aber so will er in der Zeitung genannt werden. Auch Geheimagenten haben schließlich Familie. Und bei Muammar al-Gaddafi ist Vorsicht geboten.

X. ist ein "regime change expert", wie die Amerikaner sagen, ein "Diktatoren-Stürzer". Der Offizier im besten Alter, Absolvent einer prestigereichen Militärschule bei Paris, lässt sich unter anderem von Oppositions- und Widerstandsbewegungen anheuern, wenn es darum geht, den Landesdespoten zu Fall zu bringen. Da ist nicht nur Vorsicht, sondern äußerste Diskretion geboten. Etwas gesprächiger ist er, was Libyen betrifft. Dort arbeitet Monsieur X. für die Rebellenfront. Privat, nicht als französischer Geheimagent, wie er beteuert. Seine Mission: Am Stuhl des libyschen Herrschers zu sägen, indem er Überläufer rekrutiert. "Wir sorgen dafür, dass Gaddafi vereinsamt", meint X. mit dem Anflug eines Lächelns.

Kodewort "MICE"

In den letzten Wochen sind in Tripolis mindestens ein Dutzend enge Regimevertreter zum Feind übergelaufen. Darunter waren Außenminister Mussa Kussa, Ölminister Shukri Ghanem, Innenminister Abdel-Fatah Younes oder Justizminister Mustafa Abdul Jalil. An welchen Fällen Monsieur X. beteiligt war, will er nicht einmal unter dem Mantel seiner Anonymität sagen. "Unsere Ziele sind nicht nur Regimespitzen, sondern auch potenzielle Saboteure. Ein Chauffeur, der sich mit dem Dienstwagen absetzt, kann psychologisch ebenso wertvoll sein wie sein Vorgesetzter."

Viele Überläufer werden gar nie bekannt. X. zufolge war es keine reine Propaganda, als die Nato-Staaten Ende Mai eine Reihe neuer Regimeabgänge in Tripolis vermeldeten, ohne Namen zu nennen. Häufig würden zurückgebliebene Angehörige auf diese Weise geschützt. "Einen einzelnen Regimevertreter aus dem Land zu schleusen ist nicht schwer", meint X. "Wenn der Betreffende Frau und Kind hat, bleibt er selbst häufig auf seinem Posten." Diese "defectors in place", wie man sie im Jargon nennt, dienen dann laut X. dazu, "Informationen zu beschaffen oder Verwirrung zu stiften".

Und welche Methoden wenden die Diktatoren-Stürzer an? Das Kodewort laut "MICE". "M" steht für Money. Die Höhe des finanziellen Köders hängt von der Stellung des Abtrünnigen ab. "Man kauft jemanden, der schon 20 Millionen Dollar zur Seite geschafft hat, nicht mit 100.000 Dollar", weiß X.

Der zweite Buchstabe von "MICE" meint Ideologie. Ein nobler Ausdruck für Überreden. Bei Sassi Garada, einem der letzten prominenten Überläufer in Tripolis, habe "vielleicht" auch der Umstand geholfen, dass dieser alte Weggefährte Gaddafis, zumal ein Berber, den Niedergang der libyschen Revolution schmerzlich erlebt habe.

Das "C" bedeutet "constraint". Zwang, Nötigung, Erpressung. "Kidnapping von Angehörigen oder die Drohung, kompromittierende Fotos in Umlauf zu bringen, fällt in Libyen nicht darunter", präzisiert X. "Es ist heute einfacher, Vermögen zu sperren.

Das "E" steht sodann für Ego: "Wir fragen sie: 'Willst du mit dem Regime untergehen, das dich erniedrigt hat?'" Gerade bei libyschen Ministern wie Kussa, die bei Gaddafi meist schon einmal in Ungnade gefallen waren, bevor sie rehabilitiert wurden, braucht es oft nur einen kleinen Anstoß von außen, bis sie umfallen.

Das kompensiert für die Schwierigkeit, in Libyen aus dem Stand Überläufer zu identifizieren. "Einen Staatsstreich vorzubereiten braucht etwa fünf bis sechs Jahre", meint X. "Im Krieg gegen Gaddafi fehlt die Zeit. Da der Westen vorher mit ihm kooperiert hatte, verfügten die Geheimdienste kaum über Überläufer-Akten." Kussa hatte immerhin schon einmal mit dem Westen kollaboriert, als die Islamisten der gemeinsame Feind des Westens und Gaddafis gewesen waren.

"Außer seinen Söhnen verbleiben Gaddafi nur wenige Getreue wie Bechir Salah." Der Vorsteher der Libyan Investment Authority verwalte die Erdölgelder und sichere das Überleben des Regimes. "Den umzudrehen wäre nützlicher als viele Bomben", meint X. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Printausgabe, 16.6.2011)