Auf den kleineren Blättern (hier 53 x 65 cm) spielt auch die Struktur des handgeschöpften Papiers eine Rolle: "Kunst ist Natur. Windbaum", von Max Weiler (1982)

Foto: Albertina / Yvonne Weiler

Wien - Kurze zarte und kräftige, längere Schraffuren wie in topographischen Karten, dazu kleine Strichwirbel, Kritzelbündel, Kringel und Pünktchen, dazwischen leere Flächen - so baut Max Weiler (1910-2001) seine Naturstücke auf das Papier: Schluchten, die den Blick des Betrachters in die Tiefe reißen, Wolkenspiele, die wie wilde Tiere über den Himmel springen, Gebirge, die lange, dunkle Schatten werfen.

180 seiner zeichnerischen Arbeiten zeigt die Albertina in einer Retrospektive - von frühen, romantischen Aquarellen bis zu Blättern mit farbigen Strichbündeln, die noch wenige Tage vor seinem Tod entstanden sind. Eine umfassende Schau, die nach den Ausstellungen im Gedenkjahr 2010 neuerlich die Bedeutung des stillen, zurückgezogenen Doyens der österreichischen Malerei unterstreichen will. Eine lokale Größe, denn nach wie vor ist die Nachfrage - zumindest am Sekundärmarkt - eine nationale, die mit 130.000 Euro für Kelch und Blumen (Eitempera auf Papier auf Leinwand, 100 x 100 cm, 1953) den bisherigen Auktionsrekord fand. Auch die großen Weiler-Personalen fanden - mit wenigen Ausnahmen, etwa 1989 in Mexiko und in Iowa, 1998 in Peking - in oder nahe Österreichs statt.

Kann man den ersten Teil der chronologischen Ausstellung geradezu abnicken, bremst sich in Blättern, die Ende der 1960er-Jahre entstanden, das Tempo in zeichnerischen Kringeln ab. Letztlich verfängt sich der Blick dort, wo die Formate zwar monumentaler werden, die Strukturen jedoch mikroskopischer. Aber wo ist die Natur, deren Dynamik Weiler in Kürzeln aus Kohle, Graphit und Wachskreiden aufs Papier bringt? Wo ist diese Landschaft beheimatet, fragten die Kunsthistoriker? Wo liegen die Berge, deren "enge Himmel" und "undurchsichtigen Wälder" Weiler ehrfürchtig erschaudern ließen?

Die überraschende Antwort brachte ein mehr als dreijähriges Forschungsprojekt der Albertina zu Tage, für das Regina Doppelbauer mehr als 3500 Zeichnungen gesichtet und katalogisiert hat. Schon vor einigen Jahren war die Kunsthistorikerin Margret Boehm während der Transkription von Weilers Tag- und Nachtblättern auf scheinbar Nebensächliches gestoßen: Auf Schmierpapieren strich der Maler wie auf einer Palette Pinsel ab oder testete Farben und Mischverhältnisse. Und auf diesen, inzwischen "Probierblätter" genannten Fetzen und Bögen fanden sich Markierungen, die bestimmte Details aus dem fleckigen Chaos rahmten und hervorhoben. Details, die, wie sich später erwies, exakt mit Leinwandkompositionen übereinstimmen.

Ohne jede Naturähnlichkeit

Und nun stellte sich heraus, dass Weiler solche Details etwa seit 1965 sogar für seine Zeichnungen nutzte. Die Natur, die Weiler zeichnete, fand er also im Zufälligen der eigenen Produktion: "Bei mir ist es Neuschöpfung der Natur ohne jede Naturähnlichkeit, ein neues Hervorbringen von Bergartigem, Luftartigem, Baumartigem. Aber es ist nichts Abgemaltes ... Am ehesten hat es Gemeinsames mit den Chinesen, die auch, nachdem sie das Naturerlebnis hatten, die Formen selbst machten, d. h. schon gelernt hatten", notierte Max Weiler 1972.

Das Medium Zeichnung ist für ihn kein Werkzeug der Formfindung, vielmehr löst Weiler die schnelle Linie in einer Vielzahl von Strichen auf. Gottfried Boehm bewog jenes dazu, Weiler als "Zeichner gegen die Linie und mit dem Strich" zu bezeichnen. Er übersetzt malerische Strukturen, rinnende Farben, Materialtexturen in zeichnerische Vokabeln.

Gerade vor den monumentalen, überlebensgroßen Blättern, in Knospen (1979) oder Vielfältig und reich an Form (1980) und dort, wo sich mit mehr und mehr Farbe am Papier, Zeichnung und Malerei verbinden, beginnt man darüber nachzugrübeln, warum noch immer so stark zwischen den Gattungen unterschieden wird - und zwar zulasten der unmittelbareren Zeichnung. Für Weiler waren die beiden Medien sicherlich gleichwertig. (Anne Katrin Feßler/DER STANDARD, Printausgabe, 15. 6. 2011)