Ateş bei der Diskussionsveranstaltung "Islam und Sexualität" des Wiener Vereins Forum Emanzipatorischer Islam.

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In letzter Zeit hat man nicht viel von Seyran Ateş gehört. Auf ihr zuletzt erschienenes Buch "Der Islam braucht eine sexuelle Revolution" reagierten religiöse Fanatiker mit anonymen Morddrohungen. Im daStandard.at-Interview spricht die deutsche Frauenrechtlerin und Autorin über die Sexualmoral im Islam, den Jungfrauenwahn und die "rassistische Scheinheiligkeit", wenn Mädchen vom Sportunterricht ausgeschlossen werden.

daStandard.at: Frau Ateş, Sie haben sich ja aufgrund der Morddrohungen nach der Veröffentlichung Ihres letzten Buches aus der Öffentlichkeit zurückgezogen. Warum reagieren manche Muslime so extrem auf das Thema "Sexualität"?

Seyran Ateş: Weil es das Thema ist, wo die Männer am meisten an Macht abgeben müssen. Wir haben es ja mit patriarchalischen Strukturen zu tun. Das ist mit der sexuellen Revolution in der nordamerikanischen und west-europäischen Welt auch nicht anders gewesen. Die sexuelle Revolution bedeutet einen gesellschaftlichen Umbruch. Das bedeutet Einsatz für Gleichberechtigung für Frauen, und dafür dass Religionswächter weniger Macht haben einzugreifen in die Lebensgestaltung und Planung des Einzelnen. Es gibt nicht mehr das Wir-Bewusstsein, es stärkt das Ich-Bewusstsein. All das sind die Folgen der sexuellen Revolution. Es geht ja nicht um den Geschlechtsakt hier, sondern um eine politische Wende und mehr selbstbestimmtes Leben.

Jede Diktatur, egal ob sie politisch oder religiös motiviert ist, jede sehr stark hierarchisch organisierte Form scheut nichts mehr als ein selbstbestimmtes Leben. Und deshalb sind einige Leute, die sehr an diesen Machtstrukturen hängen, bedacht darauf, dass das bestehen bleibt und fürchten die Veränderungen. Denn die würden ja bedeuten, dass Frauen tatsächlich eine Aufwertung erfahren und in der Gesellschaft Positionen einnehmen, die bisher ausschließlich von Männern eingenommen wurden. Die Macht über die Sexualität der Frauen ist ein wichtiger Aspekt für das Patriarchat. Wenn die Frauen selbst über ihren Körper bestimmen, hat der Mann auch keine sexuelle Macht mehr.

daStandard.at: In Ihrem Buch sprechen Sie von der Doppelmoral und vom "Jungfrauenwahn im Islam". Von den Frauen würde Jungfräulichkeit verlangt, Männer hingegen könnten sich austoben.

Seyran Ateş: Den Männern wird nicht nur per heiliger Schrift zugesprochen, dass ihnen vier Frauen zustehen. Zusätzlich dürfen sie ja auch noch Konkubinen haben. Es ist auch gern gesehen und wird gefördert, dass Jungs vorehelichen Geschlechtsverkehr haben und Erfahrungen sammeln. Paradox ist, dass diese Jungs ja auch ein Gegenüber benötigen. Irgendwie muss der junge Mann ja an das andere Geschlecht ran. Die Frauen, die er sich vor der Ehe besorgt, auch aus der eigenen Community, sind die, die man benutzt, mit denen man übt. Aber geheiratet wird eine andere, nämlich die, die noch Jungfrau ist. Da herrscht auch wieder eine extreme Doppelmoral. Das ist auch emotional sehr kränkend und schwierig für die Frauen, die für diese vorehelichen Spiele benutzt und somit abgewertet werden. Diese Frauen nehmen sich Freizügigkeit heraus und werden dann nicht geheiratet.

daStandard.at: In Ihrem Buch erwähnen Sie vermehrte Schwangerschaftsabbrüche unter jungen Musliminnen in Deutschland. Sex vor der Ehe findet also trotz des Verbots des außerehelichen Geschlechtsverkehrs statt. Warum lehnen sich junge Menschen, die außerehelichen Geschlechtsverkehr praktizieren, nicht gegen die sexuellen Normen auf?

Seyran Ateş: Man sieht anhand der Zahlen der Schwangerschaftsabbrüche und der Hymen-Wiederherstellung, und auch wenn sich die Gesellschaft mal anschaut, dass es immer öffentlicher gemacht wird. Die jungen Menschen treffen sich nicht mehr stundenweit entfernt vom Elternhaus in irgendwelchen Kellern, Dachböden oder Parks. Sie werden etwas mutiger, wobei sie nach wie vor dieses doppelte Spiel spielen müssen. Das Aufbegehren findet im Kleinen und im Privaten, im Einzelfall, statt. Es ist keine politische Bewegung und deshalb sage ich: Wir brauchen eine sexuelle Revolution.

Was die jungen Menschen in den arabischen Ländern gerade gemacht haben, ist genau das. Sie begehren auf, gegen politische Zustände, Korruption, Arbeitslosigkeit und Religionswächter, die ihnen vorschreiben wollen, wie sie ihre Religion zu leben haben. Sie begehren nicht gegen die Religion an sich auf. Sie sagen: 'Es ist nicht mehr zeitgemäß, was ihr von uns fordert. Wieso soll ich im schwarzen Tschador durch die Gegend laufen, während andere Mädchen den Wind um die Haare oder das Wasser auf der nackten Haut im Badeanzug spüren.'

daStandard.at: Dennoch tun sich viele schwer mit dem Aufbegehren gegen die eigene Familie...

Seyran Ateş: Das Aufbegehren gegen die Älteren wäre natürlich als nächster Schritt notwendig. Da ist noch viel Respekt und Achtung in einer falsch verstandenen Form da. Respekt wird mit ohnmächtiger Unterwerfung verwechselt. Gegen diese ohnmächtige Unterwerfung begehren einige auf, und wir müssen sie darin unterstützen. Indem ich Bücher schreibe, ist das mein Versuch zu sagen, es ist falsch sich trotz einer anderen Überzeugung und trotz der zeitgemäßen Entwicklungen  zu unterwerfen und alles unkritisch hinzunehmen. Wenn die Jugend nicht gegen die Alten aufbegehrt, dann entsteht nichts Neues, dann verändert sich die Welt nicht. Und wir brauchen die Veränderungen, die ja nicht immer negativ sind.

daStandard.at: Stichwort Badeanzug, also Schwimmen. Es ist auch an österreichischen Schulen so, dass manche Eltern damit durchkommen ihre Töchter nicht am Sportunterricht oder an Ausflügen teilnehmen zu lassen. Und teilweise wird das von den Schulen sogar akzeptiert, mit dem Verweis auf die Religion oder Kultur der Eltern.

Seyran Ateş: Das ist eine eindeutige Frauen - und Mädchenfeindlichkeit. Wen betrifft das denn? Es sind die Mädchen, die es betrifft. Das ist eine Ungleichbehandlung. Das Mädchen hat genauso wie ein Junge Anrecht darauf, schwimmen zu lernen und den Anspruch, sich zu bewegen. Kinder müssen sich bewegen, damit das Gehirn sich bewegt. Diese akzeptierte Geschlechterapartheid dürfen wir nicht einfach hinnehmen.

daStandard.at: Seitens der zuständigen Verantwortlichen in den Schulen herrscht zu dieser Geschlechterapartheid dann eigentlich stilles Einverständnis. Sehen Sie das auch so?

Seyran Ateş: Ja, Schweigen ist Zustimmung. Wenn man das zulässt, ist man in meinen Augen ein Mittäter. Das Schweigen ist ja ein Akt der Unterstützung. Ich glaube kein bisschen daran, dass das mit Achtung und Respekt vor anderen Kulturen zu tun hat. Das ist für mich verlogen und gleichzeitig die Feigheit, sich mit den eigenen Werten auseinanderzusetzen. Wir haben so viel gekämpft für die Gleichberechtigung der Geschlechter, wieso geben wir hier nach? Man ist zu fein und feige, sich damit zu konfrontieren. Was macht man denn mit den eigenen Mädchen? Für die fordert man ja, dass sie eine gute Bildung bekommen, in ihren beruflichen Karrieren nicht diskriminiert werden und in Führungspositionen kommen.

Aber bei den Migranten, bei den Moslems, da können sie ihre Mädchen ruhig kleinhalten. Das ist auch wieder eine Scheinheiligkeit. An dieser Stelle wird das auch rassistisch. Dass man sagt, für uns gilt das, für die anderen gilt etwas anderes, also mit zweierlei Maß misst. Deshalb ist das kein Akt des Wegschauens allein, sondern sogar ein Unterstützen. Das prangere ich an. Ich will, dass Jungen und Mädchen die gleichen Chancen haben und absolut gleichberechtigt behandelt werden.

daStandard.at: In ihrem Buch schreiben Sie auch, dass das Kopftuch Ungleichheit zwischen den Geschlechtern darstelle.

Seyran Ateş: Das Kopftuch ist das ultimative Zeichen für die Geschlechtertrennung. Die Markierung der Frau als Frau. Sie wird in ihrer Rolle als Weibchen manifestiert und hat eine bestimmte weibliche Rolle zu erfüllen. Da beziehe ich mich auf den Satz von Simone de Beauvoir: 'Wir werden nicht als Frauen geboren, sondern zu Frauen gemacht.'

daStandard.at: Ihrer Ansicht nach schafft das Kopftuch eine sexuell aufgeladene Atmosphäre.

Seyran Ateş: Natürlich, weil das Thema Sexualität dadurch so deutlich zur Schau getragen wird. 'Ich habe Reize, dich ich vor dir verhülle.' Und das ist ständig Thema. Wenn ich jetzt mit Ihnen so hier sitze, dann ist das kein Thema. Sobald Sie sich aber mir gegenüber verhüllen, dann habe ich das Thema, Sie wollen nicht dass ich ihre Reize sehe. Also ist da was.

daStandard.at: Sie erwähnen im Buch, dass auch Männer unter dem "Männlichkeitswahn" leiden.

Seyran Ateş: Junge Männer, aber auch ältere, leiden zusehends unter dieser rigiden Sexualmoral. Wer den Wunsch hat mit Frauen eine gleichberechtigte Beziehung zu führen, wird von seinen männlichen Kumpanen verpönt. Das ist für die Männer genauso schwierig. Sie sind zwischen Macht und Ohnmacht. Sie sind teilweise in diesen Machtstrukturen auch nicht glücklich und hätten viel lieber eine selbstbestimmtere Frau an ihrer Seite. Sie würden ja auch davon profitieren, diese ständige Wächterrolle ist doch anstrengend.

daStandard.at: Ihre Kritiker werfen Ihnen Verallgemeinerung vor. Schließlich werden nicht alle muslimischen Frauen unterdrückt, zwangsverheiratet oder sind Opfer von Gewalt. Auch junge Frauen mit Kopftuch beispielsweise sind Hand in Hand mit ihrem Freund oder Ehemann zu sehen.

Seyran Ateş: Dieses Argument hat einen sehr, sehr langen Bart und langweilt mich inzwischen. Alle die so etwas behaupten, haben nicht eine einzige Zeile aus meinem Buch gelesen und sich nicht ein einziges Mal in einen meiner Vorträge gesetzt. Würden sie die Bücher lesen, wüssten sie wie differenziert ich die Welt betrachte, und dass ich weiß, dass auch Frauen ohne Kopftuch geprügelt werden und deutsche Frauenhäuser nicht für muslimische Frauen geschaffen wurden. Ich kann sie mehr darüber aufklären, wie Frauen weltweit leiden unter Gewalt und Unterdrückung und dass das nicht ausschließlich mit dem Islam zu tun hat. Wir haben aber nun mal Statistiken, die belegen, dass gerade in der Türkei die häusliche Gewalt höher ist als in West-Europa.

daStandard.at: Seit mehr als 30 Jahren kämpfen Sie gegen die Unterdrückung der Frauen. Ist es auch ein Kampf gegen den Islam?

Seyran Ateş: Nein. Ich glaube nicht an Religion, ich glaube an Gott. Ich glaube auch nicht einen Kampf gegen Religion führen zu müssen. Wir sehen ja auch, dass die Religion des Islams, Juden- oder Christentums, egal welche, sehr vielfältig auslegbar ist und es sich in der Realität von Marokko bis Indonesien zeigt, dass wir unterschiedlichste Gesichter dieser Religion haben. (Güler Alkan,14. Juni 2011, daStandard.at)