Eine alles überrollende Zweidrittelmehrheit wollte er haben, eine Mehrheit für langwierige parlamentarische Verhandlungen hat Tayyip Erdogan, der türkische Regierungschef, bekommen. Mit ihrer Entscheidung haben die türkischen Wähler ein großes Maß an Weisheit gezeigt: Die konservativ-muslimische Regierungspartei AKP, die sie schätzen, haben die Türken gestärkt, ihren Einfluss im Parlament aber beschnitten. An den Wahlurnen hat die Türkei demokratische Reife bewiesen, die Bürokratie, Justiz und Politiker im Land mitunter vermissen lassen.

Erdogan kann weiter leicht mit absoluter Mehrheit regieren. Andere Parteien in Europa, die lange an der Macht sind, pflegen sich abzunutzen und Stimmen zu verlieren. Die AKP hat noch zugelegt. Für die EU, für die arabische Welt ist Erdogan als ernst zu nehmender Führer bestätigt worden. Ausländische Investoren werden die Stabilität, die eine dritte Regierungszeit der AKP bietet, schätzen. Für die von ihm angestrebte Verfassungsänderung muss Erdogan aber den Konsens mit anderen Parteien suchen. Ist ihm das zuzutrauen?

Das widersprüchliche Wahlergebnis kam zustande, weil sich ein anderer Teil der türkischen Gesellschaft nicht beirren ließ. Vielen ist der autoritäre Zug des Premiers nicht geheuer. Eine Erpressungskampagne gegen die Partei der Rechtsnationalisten hat nicht funktioniert. Sexvideos und Rücktritte führender Funktionäre der MHP sollten den Wiedereinzug der Partei ins Parlament verhindern. Wäre die MHP an der Zehn-Prozent-Hürde gescheitert, hätte Erdogans Partei wohl die Zweidrittelmehrheit erreicht. Die Wähler haben das durchblickt.

Nicht wenige Kurden im Südosten des Landes, die einmal AKPgewählt haben, waren enttäuscht. Sie unterstützten nun die unabhängigen Kandidaten des Kurdenbündnisses. Auch deren Sieg ist eine gute Nachricht dieser Wahlen. Mehr Sitze für die Kurden im Parlament bedeutet weniger Einfluss für die Untergrundarmee PKK in den Bergen.

Innenpolitisch wird es in den kommenden Monaten in der Türkei trotz klarer Verhältnisse im neuen Parlament kompliziert werden: Die Abschaffung der Putschisten-Verfassung von 1980, die endgültige Befreiung von der Oberaufsicht durch die Armee, ist das große Thema; auch die Neufassung des Begriffs vom Staatsbürger. Der Satz von Staatsgründer Kemal Atatürk, "Glücklich, wer sich Türke nennt" , soll nicht mehr gelten. Auch Kurden, Roma, Lazen, Armenier, Griechen, Assyrer sollen in der Türkei glücklich sein. Für all das gibt es eine Mehrheit jenseits der AKP bei den Säkularen der CHP und den Kurden - nicht aber für den zweiten Teil der Verfassungsdebatte.

Tayyip Erdogan strebt ein neues System an, ein starkes Präsidentenamt nach französischen Vorbild - und mit ihm als nächstem Staatschef. Das ist selbst einigen Führern in der AKP zu bunt, angefangen beim amtierenden Präsidenten Abdullah Gül.

Erdogan mag versucht sein, die Entscheidung über eine solche Verfassung aus dem Parlament hinaus auf die Straße zu tragen. Die nötigen Stimmen für die Organisation eines Referendums könnte er vielleicht finden. Angekündigt hat er in der Wahlnacht gleichwohl anderes. Das sollte man ihm glauben. Ebenso wenig wie die Türkei in neun Jahren AKP-Regierung ein Gottesstaat wurde, droht nun gleich die Ein-Mann-Diktatur. (Markus Bernath/DER STANDARD, Printausgabe, 14.6.2011)