Der ehemalige Zweite Nationalratspräsident Heinrich Neisser (rechts) engagiert sich in der Initiative Mehrheitswahlrecht für eine Änderung des Wahlsystems - der Grüne Volker Plass (links) will gleich den gesamten Bundesstaat umbauen, um die Demokratie zu verbessert.

Foto: Standard/Fischer

Föderalismus besteht im Wesentlichen aus neoabsolutistischem Landeskaisertum mit Parteianhängsel.

Foto: Standard/Fischer

Das ist der Kern: Dass man die Macht der Parteiapparate bei der Kandidatenauswahl beschränken muss.

Foto: Standard/Fischer

Standard: Herr Präsident Neisser, wie viele Wahlrechtsreformansätze haben sie denn in ihrem politischen Leben schon erlebt?

Neisser: Das waren ungefähr vier bis fünf. Die Diskussion hat in den 70er Jahren, Anfang der 70er Jahre, begonnen. Kreisky hat für die Minderheitsregierung die Unterstützung der FPÖ gebraucht und hat als Preis eine Wahlrechtsreform bezahlt, die eine Verstärkung des Proportionalwahlrechtes war, weil das nach der damaligen Situation der FPÖ nützlich war.

Standard: Das war die Wahlrechtsreform 1971?

Neisser: Das war 1971. Dann gab es in den 80er Jahren Diskussionen, die sich hauptsächlich um die Frage einer Verbesserung der Personalisierung des Wahlrechtes durch Einführung eines Vorzugsstimmensystems gedreht haben. In diesem Zusammenhang sind verschiedene ausländische Modelle, so etwa das Südtiroler-System diskutiert worden. Die Diskussion damals war nicht sehr ergiebig, sie hat eigentlich erst im Jahr 1992 durch eine Wahlrechtsreform ihren Niederschlag gefunden, die einen Seite zu einem neuen System der Wahlkreise geführt hat - man hat drei Ebenen eingeführt, die unterste Ebene 43 Regionalwahlkreise dienten auch dem Hauptziel einer Personalisierung, und das zweite war eine Verbesserung des Vorzugstimmensystems. Allerdings hat die bisherige Praxis gezeigt, dass das eigentlich nicht sehr relevant ist. Im diesem Zusammenhang muss ich auch eine Diskussion drei Jahre später über die Einführung des Europawahlrechtes erwähnen, wo es letztlich auch um die Fragen einer Personalisierung des Vorzugstimmensystems gegangen ist, und vor allem um die Frage, ob man jetzt in einem Wahlkreis diese Wahl durchführen soll oder eine regionale Differenzierung vornimmt.

Die letzte Phase ist die Phase der letzten zwei bis drei Jahre gewesen, wo das Thema Mehrheitswahlrecht etwas in den Vordergrund getreten ist. Vor allem deshalb, weil es eine Reihe von Politikern gegeben hat, die diese Idee wieder in den Raum gestellt haben und zwar keine Hinterbänkler, sondern es waren immerhin Vranitzky, Cap, Josef Pröll - und daneben gab es aber auch in der österreichischen Medienlandschaft einige Zeitungen die wieder zu dieser Diskussion aufgerufen haben, und das hat letztlich auch dazu geführt dass wir in einer Initiative für Mehrheitswahlrecht versucht haben einen gewissen Impuls zu geben für eine Wahlrechtsreform-Diskussion. Wir haben in der Zwischenzeit unser Anliegen erweitert, weil wir überhaupt auch die Demokratiereform miteinbezogen haben. Ich bin der Meinung, dass die Krise der heutigen representativen Demokratie natürlich auch durch das Wahlrecht etwas korrigiert werden könnte, aber das ist nicht das einzige Remedium.

Standard: Wir haben unlängst eine Umfrage im Standard gehabt, wir haben gefragt: Was ist denn in Österreich gerecht geregelt und was nicht? Und da sagen die Leute: Das Wahlrecht ist eigentlich besonders gerecht. Ist diese Ansicht falsch?

Neisser: Naja das ist die Frage was ist Gerechtigkeit? Die wird immer wieder gestellt, aber kann nicht beantwortet werden. Ich möchte zunächst der Position entgegen treten, die behauptet, das Verhältniswahlrecht ist gerecht, das Mehrheitswahlrecht ist ungerecht. Das kann man empirisch dadurch wiederlegen, dass sich eigentlich der Großteil der Wahlsysteme der Welt am Mehrheitswahlrecht orientiert. Und man wird diese Demokratien nicht als ungerechte Demokratien bezeichnen können. Sie gehen nur von einem anderen Gerechtigkeitsansatz aus. Im Verhältniswahlrecht bedeutet Gerechtigkeit eine spiegelbildliche Wiedergabe der politischen Stimmenverhältnisse in der Repräsentation. Also auf Deutsch gesagt: im Parlament. Im Mehrheitswahlrecht gilt das Prinzip, dass die Mehrheit entscheidet. Auch dieses Prinzip ist ein demokratisches Prinzip. Es ist eine Frage, wofür man sich entscheidet. Es gibt kein Wahlrecht, von dem man absolut sagen kann, es ist gerecht, es ist gut, es ist das Beste. Jedes Wahlsystem hat Vor- und Nachteile. Und die Entscheidung für ein Wahlsystem hängt davon ab, welche Vorteile man lukrieren will.

Standard: Jetzt würde ich von den Grünen da einen massiven Widerspruch erwarten. Mehrheitswahlrecht könnte ja bedeuten, dass eine Grüne Partei überhaupt keine Bedeutung mehr hat in Österreich?

Plass: Also, wenn man Mehrheitswahlrecht in der brutalsten Form umsetzt, führt das ziemlich sicher zu einem Zwei-Parteien-System ähnlich wie in den USA. Da läuten natürlich die Alarmglocken, das ist ganz klar. Wobei ich doch etwas weiter denke, und mir denke, ein modifizierter Ansatz, der zum Beispiel lautet, die stimmenstärkste Partei bekommt 50 Prozent minus 1 Mandat. Das würde vielleicht keine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme für Grüne Parlamentarier sein, allerdings würde das wahrscheinlich die Chance erhöhen, dass Grüne in der Regierung sind. Man muss das auf eine prinzipielle Ebene zurückführen: Was löst den absoluten Stillstand in diesem Land? Und ich glaube, das ist weniger ein Frage Verhältniswahlrecht oder Mehrheitswahlrecht, sondern das ist die Tatsache, dass wir uns in Österreich eine überproportionale Wichtigkeit der Landesebene leisten. Wir haben einerseits zehn nationale gesetzgebende Körperschaften, obwohl das überhaupt nicht notwendig wäre, und wir haben einen sehr sehr massiven Einfluss der Landesparteien auf die jeweiligen Bundesparteien. Da ist die ÖVP ein sehr gutes Beispiel. Aber ähnliche Effekte gibt es bei allen anderen Parteien natürlich auch.

Standard: Soweit ich die Grünen kenne, gibt es das auch bei den Grünen...

Plass: ... ja, auch bei den Grünen, und das verstärkt sich sogar im Lauf der letzten Jahrzehnte. Das kritisiere ich auch sehr stark. Das heisst die wesentliche Frage ist: Wie brechen wir die Dominanz der Landesparteien und der Landesorganisationen im politischen Prozess? Denn Österreich ist ein sehr sehr kleines Land, und der Föderalismus, der real existierende Föderalismus den wir hier betreiben, am Papier ist ja alles sehr nett, da spricht man von einem effizienten, von einem modernen, von einem kooperativen Föderalismus und all das. Aber real existierender Föderalismus besteht im Wesentlichen aus einem neoabsolutistischen Landeskaisertum, mit Parteianhängsel. Und wir haben in Österreich leider die Situation, dass neun Landeshauptleute neun Zentralen betreiben und sich eine Filiale in Wien halten, und die jeweilige Landespartei als bestes Erfolgsrezept die Gegnerschaft zu jeweiligen Bundespartei oder zur Bundesregierung auserwählt. Und diesen Stillstand aufzubrechen und dieses Spannungsfeld anzugehen, das wäre wesentlich. Und da ist es dann letztendlich egal, ob man eher einem Verhältniswahlrecht oder einem Mehrheitswahlrecht zugeneigt ist. Wir sagen auch es wäre durchaus gut, Persönlichkeitswahlrechte zu stärken, das ist etwas ganz ganz Wichtiges, diese Landesebene zurückzudrängen. Also wenn, dann muss es eine Regionalisierung in wesentlich kleineren Bereichen geben.

Standard: Sie kennen das mit der Dominanz der Landesparteien, sie sind ja nicht erst seit ein paar Tagen in der ÖVP.

Neisser: Ich kenne das. Der Föderalismus ist eine Problemzone. Ich möchte nur zu der Anfangsbemerkung von Herrn Plass noch etwas sagen: Ich bin auch gegen eine brutale Form des Mehrheitswahlrechts. Das englische Beispiel eines relativen Mehrheitswahlrechtes ist für mich in Österreich nicht anwendbar. Wir haben in unserer Initiative auch die Diskussion begonnen um verschiedene andere Varianten - also etwa das französische System, das immerhin die absolute Mehrheit vorsieht und zwei Wahlgänge, oder andere Formen. Sie haben es ja selbst auch angesprochen - ich weiß, der Begriff „minderheitenfreundliches Mehrheitswahlrecht" ist schwer zu verkaufen und verständlich zu machen. Aber es gibt Modelle, die das ein bisschen abfedern. Ich möchte nur eines sagen: Ich glaube wirklich, dass die Zeit von zwei Großparteien in Österreich endgültig vorbei ist. Ich glaube, die kommt auch nicht mehr wieder. Es wird diese Dominanz der SPÖ und der ÖVP, die sich ja in den historischen Anfängen der großen Koalition in einer 90-prozentigen Mehrheit für beide Parteien manifestiert hat, die wird nicht mehr kommen. Sondern, diese Parteien unterliegen einem Schrumpfungsprozess, sie können Ihre Linie korrigieren und vielleicht wieder ein bisschen sich stabilisieren aber der große Sprung nach Vorne kommt nicht. Wir sehen das daran, wie immer man zu ihnen steht, ich bin über den Verdacht erhaben ein Sympathisant der Freiheitlichen zu sein, aber wir sehen das an der Entwicklung des Strache und, was für mich ja auch ganz interessant ist, ich sehe es an der Entwicklung der Grünen, weniger in Österreich aber in Deutschland. Deutschland hat ja ein Mischsystem wo auch eine Personalisierung in Einer-Wahlkreisen drinnen liegt, ich glaube dass hier doch in Zukunft sich das erheblich ändern wird. In Österreich laufen die Uhren immer etwas langsamer, aber ich glaube es wird kommen.

Wir kriegen eine Mehrparteien-Landschaft, die wahrscheinlich auch eine neue ideologische Prägung hat, in dem Sinne, dass es sich um politische Bewegungen handeln wird, die Themen hineinstellen, die man nach den alten Schemata des Konservativen, des Liberalen und des Sozialdemokratischen wahrscheinlich gar nicht mehr bemessen kann. Das ist zu erwarten, das ist für eine Demokratie auch normal, weil Demokratie in sich eine dynamische Form ist, und es steht ja nirgends geschrieben, das unsere demokratischen Systemzeichen große Koalition, Permanentkoalitionen, dass das sozusagen für die Ewigkeit existiert, im Gegenteil glaube ich dass wir auch im Hinblick auf die internationalen Entwicklungen unser System ganz erheblich hier mobilisieren müssen. Das Problem einer Wahlrechtsreform ist: Man rechnet sofort aus, was könnte für uns dabei herauskommen? Da verstehe ich schon, weil man damit messen kann, ob eine Wahlrechtsreform kleinen Parteien schadet oder nicht. Ich glaube nur dass dieser Ansatz ein bisschen zu wenig ist, weil ich erwarte mir von einer Wahlrechtsreform auch eine substantielle Veränderung des Verhaltens der Wählerschaft. Und ich würde mir wünschen, dass aus einer Wahlrechtsreform auch eine völlig neue Gewichtung in der Wählerlandschaft entsteht.

Standard: In den letzten Jahrzehnten hat man auf Personalisierung gesetzt, mit der Folge, dass wir im Parlament Leute sitzen haben, die sich mehr dem Wahlkreis als dem grundsätzlichen Parteiprogramm verpflichtet fühlen.

Neisser: Häufig: Weder noch. Mein persönliches Motiv für eine Wahlrechtsreform ist der Versuch den Parlamentarismus, das Parlament zu verlebendigen. Und das gilt natürlich auch, da hat der Herr Plass völlig recht, für die Länder genauso, die Landtage sind ja von einer wirklich minimalen Bedeutung in einem politischen Prozess. Wir haben da in den Parlamenten Menschen sitzen, die sich in erster Linie als Vollstrecker der politischen Parteien ansehen, die auch von den politischen Parteien entsendet werden, nicht wahr, der Erhalt eines Mandates oder der Möglichkeit einer Kandidatur ist ja meistens die Belohnung für besondere Dienste die man einer Partei gebracht hat. Das Bundesparlament ist auch kein sehr bewegendes Beispiel, der Bundesrat spielt von der Struktur her schon keine Rolle, im Nationalrat glaube ich ist die individuelle Individualität ganz erheblich zurück gegangen. Ich will nicht sagen, dass alles früher besser war, aber als ich noch im Parlament war vor 15-20 Jahren, waren Individualitäten da, die manchmal in der Lage waren so ein parlamentarisches Geschehen zu prägen. Das ist heute alles weg.

Mir geht es vor allem darum eine neue persönliche Qualität hineinzubringen, und das bedeutet - und das ist der Kern für mich jeder Wahlrechtsdiskussion - dass man die Macht der Parteiapparate bei der Kandidatenauswahl beschränken muss. Das gibt es verschiedene Möglichkeiten. Die ÖVP hat es in den achtziger Jahren mit Vorwahlen versucht - aber das dann nicht weiter betrieben. Eine Demokratie, ohne dass es ein persönliches Verhältnis zwischen den Wählern und den Gewählten gibt, ist keine gute Demokratie. Ich erkenne die Realität an, dass in einer Demokratie der Kampf der Giganten, also des Parteiobmanns, des Spitzenkandidaten, das Entscheidende ist. Das ist schon richtig. Aber von dem allein kann eine Demokratie nicht leben, sie braucht diese Ebene des wechselseitigen Vertrauens. Ich bin sehr vorsichtig, weil ich sehe in einer Wahlrechtsreform, da haben Sie natürlich schon auch recht, nicht das Allheilmittel. Es wäre ein Chance, das Zeichen, eine Willenskundgebung, dass man ein gewisses Risiko eingeht und dass man was ändern will.

Plass: Ich glaube trotzdem, dass die derzeitige Verfassungsstruktur Österreichs mit dem Föderalismus, den wir momentan haben, das Grundübel und die Wurzel der gesamten Reformunfähigkeit ist. Und zwar, da ist es jetzt nicht direkt entscheidend, ob da neun Landtage arbeiten, die Kosten die dort direkt anfallen, das ist Peanuts. Und auch die Landesgesetzgebung ist ja weitestgehend irrelevant. Sondern die indirekten Effekte sind das, was diesen Stillstand erzeugt. Einerseits Milliardenverschwendung durch unnötige Prestigeprojekte a la Koralmtunnel. Zweitens haben wir durchschnittlich und statistisch jedes halbe Jahr eine angeblich alles entscheidende Landtagswahl, die die gesamte Bundesregierung und Bundespolitik im Stillstand verharren lässt. Und das Erfolgsrezept eines jeden Landeshauptmanns war es immer noch, im halben Jahr vor der Landtagswahl sich möglichst gegen Wien oder gegen „die im Bund" aufzumunitionieren. Das muss man durchbrechen. Punkt eins: Wir brauchen keine Landesgesetzgebung in Österreich. Österreich ist ein sehr kleines, kulturell, ethisch, sprachlich weitestgehend homogenes Land, dessen Landesteile sich nicht so stark unterscheiden, dass man eine Landesgesetzgebung braucht. Aber wir können eine Regionalisierung im Wahlrecht durchaus erreichen, indem wir den Bundesrat zu einer echten zweiten Kammer des Parlaments aufwerten.

Standard: Damit man die Diskussionen, die jetzt in der Fragestunde sind, in den Bundesrat verlegt?

Plass: Genau. Ich würde es die zweite Kammer des NR nennen. Ich würde die erste Kammer, also den bestehenden Nationalrat, nur auf das dritte Ermittlungsverfahren reduzieren. Ich würde die Regionalwahlkreislisten und die Landeswahlkreislisten weglassen, die Parteien treten nur mit Bundeslisten an, damit wir dort endlich Bundespolitiker haben, die sich für Gesamtösterreich verantwortlich fühlen. Aber auf diesen Bundeslisten sollte es ein extremes Persönlichkeitswahlrecht geben. Also die Chance, für den einzelnen Wähler, hier die Liste umzureihen, muss wesentlich größer werden. Und die zweite Kammer würde ich ganz anders zusammensetzen. Die würde ich mit einem extremen Persönlichkeitswahlrecht wählen. Der Reichratssitzungssaal bietet ja genügend Platz, da könnte man eine echte zweite Kammer machen, mit Regionalabgeordneten, die auch ihren Arbeitsplatz in der Region haben, die ein kleines Büro im Zillertal, im Waldviertel, im Seewinkel zur Verfügung gestellt bekommen, um dort den politischen Prozess auch mit den Menschen zu gestalten, zu moderieren. Auch, um eine Ombudsmannfunktion in dieser Region auszuüben. Diese zweite Kammer könnte mit gewissen Vetorechtechten ausgestattet werden und sie könnte auch zum Beispiel in der Regionalentwicklung gewisse eigene Kompetenzen im bescheidenen Umfang haben. Das wäre ein System, wo wir einerseits durch eine reine Reduktion auf die Bundeslisten in der ersten Kammer und eine extreme Regionalisierung in der zweiten Kammer, diese Dominanz der Landesparteien zurückdrängen. Und das ist der Schlüssel zum Erfolg.

Neisser: Das System ist ganz interessant. Sie müssen nur folgendes beachten. Auch bei einem bundesweiten Wahlkreis, bei dem man die Möglichkeiten einer Verschiebung vorsieht, muss man allerdings berücksichtigen, dass schon auch eine gewisse regionale Repräsentanz vorhanden ist.

Plass: Das soll der Markt entscheiden, dass traue ich den Parteien schon zu.

Neisser: Aber das hängt ja von den Parteien ab, die stellen ja nach wie vor die Kandidaten auf. Es werden nicht gut, wenn dann im Nationalrat 80 Prozent Wiener Abgeordnete wären.

Plass: Aber ich nehme an, dass eine solche Partei die Wahl nicht gewinnen wird. Es wäre meines Erachtens vollkommen logisch, dass jeder Bundesparteivorstand, oder jeder Parteitag oder jedes Bundesparteisekretariat, je nach dem, wie die Liste erstellt wird, selbst auf eine regionale Ausgewogenheit achtet, weil man die Vorarlberger und Tiroler Stimmen ebenso braucht....

Standard: ... und die Frauenstimmen...

Plass: ... oder die Frauenstimmen, ich bin ja bei den Grünen ein ganz gebranntes Kind, das würde auch zu einer meines Erachtens besseren Repräsentanz der gesamten Gesellschaft auf den Listen und auf den Wahlvorschlägen führen. Wir haben ja momentan in jeder Partei die Situation, dass neun Landeslisten mit arithmetischen Zufälligkeiten zusammengeschustert werden, und dann hat man einen Parlamentsklub, der im Wesentlichen relativ zufällig zusammengesetzt ist. Das fällt bei den großen Parteien nicht so auf wie bei den kleinen, weil da erschlägt die Masse der Abgeordneten, die auch immer kleiner wird, dass alle Kompetenzen dort vertreten sind. Ich kritisiere es massiv, dass bei den Grünen kein einziger Mandatar im Parlament ist, der einen Teil seines Lebens in der Privatwirtschaft verbracht hat. Das wäre, wenn man Bundeslisten hätte, wesentlich leichter zu erreichen, dass man hier zu einer besseren Repräsentanz der Gesellschaft auch im Parlament kommt. Insofern finde ich es auch unfair, jetzt hat es ja diese Diskussion gegeben, rund um die Bestellung von ÖVP-Obmann Spindelegger, wo es geheißen hat, die Bünde und die Landesparteien mischen sich so ein. Da sind zwei Dinge in einen Topf geworfen worden, die eine unterschiedliche Wertigkeit hat. Das Bündesystem der ÖVP kann man ja noch rechtfertigen, weil da die wesentlichen gesellschaftliche Gruppen ihren Einfluss sichern wollen und es steht einer großen Volkspartei gut zu Gesicht, alle gesellschaftlichen Gruppen zu repräsentieren. Das Problem sind ja meines Erachtens die Landeshauptleute und die Landesparteien, sich in alle parteiinternen Prozesse derartig massiv einmischen, dass eben jeder Parteiobmann oder ein Bundesparteivorstand ob er jetzt ein Schwarzer, ein Grüner, ein Roter oder Blauer ist, eben nicht die freie Hand hat, das Beste zur Umsetzung der eigenen Programmatik zu machen.

Neisser: Ich möchte nur einen Gedanken sagen, in der Frage, weil Sie den Föderalismus jetzt mehrfach angeschnitten haben. Ich bin nicht ganz der Meinung, dass man die Landtage quasi ihrer Funktion entkleiden soll. Es stimmt zwar, es wäre theoretisch möglich, ein Modell zu entwickeln, und das ist auch diskutiert worden, dass die Länder keine Landeskompetenz in der Gesetzgebung haben, sondern die gesamte Kompetenz für die Vollziehung bundesweit bekommen. Aber irgendwo glaube ich, spielen die Länder schon noch eine Rolle. Ich habe einen anderen Ansatz.

Plass: Tschuldigung, das ist eine reine Gefühlsebene. National können Sie das nicht begründen.

Neisser: Nein, das ist keine Gefühlsebene. Das ist eine Frage der kulturellen Identität. Es gibt in dem Land noch so etwas, was man als regionale Identität bezeichnen kann. An dem knüpfe ich ja was anderes. Ich knüpfe an den europäischen Gedanken des Regionalismus an. Die Landtage sollten geändert werden, auch von ihrem Selbstverständnis her, so quasi in regionale Parlamente. Das bedeutet für mich, dass sie wahrscheinlich weitgehend keine Gesetzgebungsfunktionen haben, dass man ihnen aber Planungsfunktionen gibt. Mein Grundgedanke ist, dass wir in Europa eine Entwicklung erleben, wo die Regionen zunehmend grenzüberschreitend zusammenarbeiten. Es gibt kein österreichisches Bundesland, das nicht irgendeine Kooperation zu einem Nachbarland hat, das sogar EU-Mitglied ist, Ausnahme Vorarlberg und Schweiz. Wir haben die drei Landtage in Tirol, wir haben eine doch stärker werdende Kooperation zwischen Kärnten, Slowenien und Friaul, wir haben die pannonische Zusammenarbeit, wir haben eine Zusammenarbeit zwischen Niederösterreich und Oberösterreich und der tschechischen Republik, das ist wohl das Schwierigste aus der historischen Belastung her, das gebe ich schon zu. Aber ich glaube, da sind Entwicklungen unterwegs, und die sollte man zum Anlass nehmen, um den Landtagen, genannt Regionalparlamente wirklich eine verstärkte Möglichkeit der Kooperation zu geben. Wir haben in Europa sehr schöne Beispiele, wo beispielsweise Arbeitsmarktprogramme entwickelt werden, wo wirtschaftliche Konzepte aus dieser regionalen Struktur entwickelt werden. Das wäre eine andere Form, als der klassische Föderalismus.

Standard: Aber das machen ja nicht die Landtage, sondern das machen typischerweise die Exekutivbeamten. Wenn ich sage, wir haben eine Kooperation zwischen ... dann wählen wir doch die Landesräte.

Neisser: Man kann die Landesregierung auch wählen, das wäre natürlich auch ein Modell. Die demokratische Legitimität im regionalen Bereich ist schon erforderlich.

Plass: Einspruch. Die Landesgesetzgebung, in der Form, in der wir sie jetzt haben, ich glaube, da sind wir schon einer Meinung, dass das ein Auslaufmodell des 19. und 20. Jahrhunderts ist, wofür heute junge Menschen wirklich kein Verständnis mehr haben, dass Österreich neun Mal verzettelt ist im Energie- und Klimaschutz, im Jugendbereich, im Gesundheitsbereich usw. Dass wir da uns unendlich verzetteln und die bundesweite Zielerreichung durch solche Dinge erschwert wird. Bestes Beispiel: Die thermische Gebäudesanierung. Die Bundesregierung erhöht die Programme massiv, gleichzeitig fahren alle Länder die Programme zurück. Das ist kontraproduktiv, dass wir uns hier auf zehn Bereiche verzetteln und uns das Leben schwer machen. Punkt zwei: Die regionale Identität. Das hinterfrage ich sehr. Wenn wir das intern diskutieren, bekommen alle Teilnehmer eine Österreichkarte, wo die Bundesländergrenzen nur schemenhaft eingezeichnet sind. Jeder muss mit einem dicken Filzstift den Bereich straffieren, zu dem er sich emotional zugehörig fühlt, wo er politisch mitbestimmen will, wo es ihm nicht egal ist, was passiert. In 99 Prozent der Fälle hat dieses Gebiet nichts mit einer Bundesländergrenze zu tun. Sprich, die Bundesländer repräsentieren letztendlich irgendwelche Waffenstillstandslinien des Mittelalters, mittelalterliche Fürstentümer und haben in der heutigen Zeit als Verwaltungsräume und als politische Räume keine logische Bedeutung mehr.

Was unterscheidet einen Oberösterreicher von einem Niederösterreicher, einem Waldviertler von einem Mühlviertler, dass man das mit zwei unterschiedlichen Landesgesetzen auseinanderhalten muss. Ich bin aber sehr wohl dafür, diesen Gedanken der Regionen aufzugreifen. Das wäre ja die tolle Vision der Europäischen Union, dass wir zu einem europäischen Bundesstaat kommen, mit einer gemeinsamen Außenpolitik, mit einer gemeinsamen Verteidigungs- und Wirtschaftspolitik. Und die Regionen grenzübergreifend stärken, auch Gemeinden stärken, Autonomie von Schulen stärken. Die ganz kleinen Strukturen gehören gestärkt, die ganz nahe dran sind. Aber was hat ein Schladminger Bergbauer mit einer Webdesignerin in der Grazer Innenstadt zu tun, damit die eine gemeinsame steirische Identität haben im 21. Jahrhundert, die man landesgesetzlich mit Landeshauptmann, Landesbudget, mit Landeshypothekenbank noch gemeinsam organisieren muss. Das ist ein Auslaufmodell. Man kann natürlich sagen, das ist die föderalistische Folklore, aber wir erkaufen uns dieses Modell mit ganz ganz großen und milliardenteuren Nachteilen. Es wird das Geld verschwendet, wir sind in etlichen Politikbereichen massiv zurückgefallen, Bildungspolitik, wir haben ganz große Probleme in der Gesundheitspolitik allein dadurch, dass wir Österreich in neun Schrebergärten zerteilt haben. Das ist meiner Meinung der Schlüssel zum Erfolg, ich weiß allerdings auch, dass das wahnsinnig schwierig wird, allerdings wir müssen dieses System fundamental attackieren.

Jedes „aber eigentlich aber doch" und „regional und historische Identität" schwächt eigentlich diesen Reformansatz. Ich bin aber durchaus dafür, den Menschen auch eine Perspektive zu geben, weil zwei Dinge kommen sofort und die beiden Dinge verstehe ich: Österreich ist nicht 100 prozentig gleich, wir im Zillertal leben doch noch anders wie in der Wiener Innenstadt und ich möchte lokal mit meinen politischen Bedürfnissen wahrgenommen werden. Das wird allerdings nicht in den Landtagen organisiert, die Landtage sind ja von der Bevölkerung weitgehndst abgeschottet, da trifft vielleichtd er Begriff Quatschbude vielleicht wirklich zu. Aber wenn man sich einmal die Tagesordnungspunkte einer Landtagssitzung angeschaut hat, da sträuben sich ja alle Haare. Was ich mir vorstellen könnte, wenn man die Landtage beibehalten möchte, dass man sie echt öffnet und zu wirklich echten Bürgerkonventen macht, wo die Bevölkerung wirklich einbezogen wird.

Neisser: Der Idee würde ich schon was abgewinnen, die Landtage zu öffnen und zu einer Diskussionsplattform für die Bürgerschaft zu machen, das heißt, sie auch einer plebiszitären Demokratie zugänglich zu machen, da haben wir viel zu wenig Fantasie um darüber nachzudenken, weil wir noch immer in dieser Dualismus-plebiszitären Demoktatie und Repräsentative gefangen sind. Nur in einer Sache bin ich nicht Ihrer Meinung, was die Identität anbelangt. Ich glaube, es gibt in diesem Land eine kulturelle Identität, die jetzt sogar zum Teil wieder stärker geworden ist durch diesen europäischen Einigungsprozess. Der ja auf der einen Seite zwar die Gemeinschaftsdimension immer hervorhebt, und auf der anderen Seite, das zeigen die praktischen Beispiel der europäischen Politik, natürlich die nationalen Interessen und Ambitionen in den Vordergund stellt. Es entstehen in Österreich unglaublich viele kulturelle Veranstaltungen. Wir haben noch nie in unserer Geschichte so viele Festivals gehabt, die haben alle eine sehr starke regionale identitätsstiftende Funktion. Es ist dieses Bedürfnis schon da. Wenn Sie sagen, die Zillertaler wollen ihre lokalen Probleme auch in die Öffentlichkeit tragen, wo sollen sie das anders können, als in einer Einheit, die sozusagen noch Tiroler zusammenführt.

Plass: Vielleicht gäbe es dann Allianzen der Zillertaler mit den Mühlviertlern und den Südsteiermärkern.

Neisser: Das ist insofern, weil in Tirol alle großen Funktionen von Oberösterreichern besetzt sind, vom Bischof angefangen.

Plass: Ein Übel, das wir beide ablehnen. Aber da haben Sie vollkommen recht und ich finde es einen charmanten Gedanken, dass ein neues System und ein neues Wahlrecht auch ein neues politisches Denken und ein neues Verhalten der Wählerschaft bedingt. Da könnte man durchaus darauf vertrauen, dass sich dann neue Arbeitsformen und neue Allianzen bilden.

Neisser: Das glaube ich auch.

Plass: Ich gebe Ihnen vollkommen recht, was die lokale kulturelle Identität betrifft. Da erleben wir ja ohnehin in den letzten Jahren eine Renessaince. Von der Gastronomie über die Musik, von der Bierkultur brauch ich gar nicht reden hier. Dass sich überall die Leute zurückbesinnen auf ihre regionale Identität, das ist ein wertvoller Schatz. Nur das muss ich nicht mit neun verschiedenen Bauordnungen sichern. Oder mit neun verschiedenen Energieausweisen. Man muss ganz klar sagen, bitte was sind globale, nationale Themen und Probleme, die muss ich national einheitlich lösen. Ich könnte mir aber vorstellen, dass die Bundesländer ohnehin bestehen bleiben, das Absingen der Landeshymne, die Brauchtumpflege und alle Feuerwehrvereine, das wird ja nicht angegriffen. Ich könnte mir noch vorstellen, dass man einen gewissen lokalen Kulturbetrieb auch noch autonom gestalten kann und dass dafür die Bundesebene Geld zur Verfügung stellt. Im Kulturbereich lasse ich mit mir reden, aber bitte nicht bei der Wirtschaft, nicht in der Energiepolitik, nicht in der Bildungspolitik und in der Gesundheitspolitik. In der Bildungspolitik schon, in dem ich den Schuldirektor sehr autonom in ihrer Schule agieren lasse, aber nicht den Landesschulinspektor.

Neisser: Die Beispiele unterstreichen Ihre Argumentation. Aber, das hat man jetzt auch noch nicht gemacht in der Bundesstaatsreformdiskussion, man sollte wirklich überlegen, in welchen Verwaltungsaufgaben es unter Umständen zu unterschiedlichen Erfordernissen kommen kann. Ich kann mir nämlich schon vorstellen, der Naturschutz in Tirol steht natürlich vor anderen Herausforderungen als der in Niederösterreich. Das ist klar. Es wäre zu überlegen, hier fände man vielleicht doch Ansätze auch einer gewissen Landeskompetenz, wobei man hier andere Wege gehen müsste. Wir waren ja schon viel weiter. In der Monarchie hat es die sogenannte Reichsrahmengesetzgebung gegeben. Das heißt, da hat der Gesamtstatt einen Rahmen vorgegeben und innerhalb diesen Rahmens haben die Länder Gestaltungsräume gehabt. Das wieder zu aktivieren, wäre ein nicht uninteressanter Gedanke. Aber die Beispiele, die Sie genannt haben, sind auch von meiner Sicht her natürlich wesentliche Argumente gegen eine Föderalisierung.

Plass: Wenn Sie den Naturschutz nennen: Wie schafft es eine niederösterreischische Landesverwaltung, so unterschiedliche Landschaften wie das nördliche Weinviertel und den Semmering gemeinsam zu managen. Da sind ja auch himmelhohe Unterschiede. Man kann mit diesem Argument, dass es Unterschiede gibt, das Land auch in noch kleinere Teile zerteilen. Irgendwann werden wir die Gemeinden noch teilen müssen, weil sich der eine Teil mit dem anderen nicht verträgt. Das heißt, wir müssen wirklich schauen, wo sind sinnvolle Größenordnungen und Österreich ist eine Region ingesamt, ein Land, das ungefähr gleich groß ist wie Bayern und da funktioniert es ja auch sehr hut. Das sind emotionale Argumente, die ich zum Teil auf einer emotionalen Ebene nachvollziehen kann, ich bin aber nicht bereut dafür, jedes Jahr dafür Milliarden zur Verfügung zu stellen, und ganz ganz große bildungspolitische, gesundheitspolitische, wirtschaftspolitische Nachteile in Kauf zu nehmen.

Standard: Wahlrechtsfragen. Etwas, was bei beiden herauskommt: Wir brauchen die Personalisierung, nur sie sollte anders sein. Die ÖVP hat die Vorwahlen wieder sein lassen, an alle möglichen, bei den Grünen, es gibt keine Partei, wo bei der Listenaufstellung so gestritten wird wie bei den Grünen, wie könnte man es richtig machen?

Neisser: Wir haben das in unserer Initiative, die im Jänner präsentiert wurde. Diese tut dem Verhältniswahlrecht genüge, aber ermöglicht doch eine verstärkte Personalisierung. Das ist dem deutschen Wahlrechtssystem nachempfunden, wo, ich sage das grob skizziert, die Hälfte der Abgeordneten in Einerwahlkreisen gewählt wird. Das heißt, derjenige, der die meisten Stimmen hat, ist der Sieger aus einer Konkurrenz von mehreren Personen. Die andere Hälfte kommen über die Liste, die Einerwahlkreise werden auf die Liste angerechnet, so dass das Verhältniswahlrecht gewährleistet ist. Das ist ein System, dass man sogar ohne Verfassungsänderung in Österreich beschließen könnte und wäre zumindest ein Ansatz. Soweit ich die deutsche Diskussion kenne, ist sie erfolgreich gewesen. Das wäre zumindest ein Weg. Man kann natürlich auch das Vorzugsstimmenwahlrecht verbessern, das ist keine Frage, man kann die Schwelle heruntersetzen, sodass eine Vorzugsstimme eine größere Wirkung hat.

Plass: Eine größere Hebelwirkung.

Neisser:  Das ist die eine Möglichkeit. Die zweite ist, dass man ein System schafft, in dem man in Wahlkreisen verstärkt personalisiert. Das halte ich deshalb für wichtig, weil da wird die Person sichtbar. Der Großteil der Wähler weiß ja nicht einmal, wer auf der Liste steht. Wenn man einen Einerwahlkreis hat, wissen die Wähler, Herr Maier oder Herr Müller kandidiert. Wenn die gewinne, dann sind sie es. Das wäre für miche in Ansatz, der wichtig ist, dass die Abgeordneten aus der Anonymität herauskommen. Ich finde das so furchtbar, ich habe in den 70er Jahren einmal eine Untersuchung verwertet, wo festgestellt wurde, dass nur elf Prozent eines Wahlkreises in der Lage sind, den Namen eines Abgeordneten zu nennen, aber nicht die Zugehörigkeit einer Partei. Ich habe das einem Meinungsforscher vor einiger Zeit erzählt, der hat mir cool gesagt, da hat sich bis heute nichts geändert. Das ist ein Wahnsinn, eine Demokratie, wo der Abgeordnete ein unbekanntes Wesen ist.

Standard: Mich interessiert ja auch nicht, wenn ich in Favoriten wohne, wer ist der Abgeordnete aus Favoriten. Ich wähle in Wirklichkeit keinen Favoritner Abgeordneten, sondern ich wähle Grüne, SPÖ oder ÖVP oder Freiheitlich oder BZÖ.

Plass: Die Frage ist, wollen wir, zumindest in der ersten Kammer, wollen wir da 183 Partikularinteressen bündeln oder wollen wir da 183 Bundespolitiker sitzen haben. Ich neige zum zweiten Modell. Ich neige wirklich dem Modell zu, dass man zumindest in der ersten, der gesetzgebenden Kammer schaut, dass möglichst viele Menschen drinnen sind, die bundespolitisch, bundesweit denken, die natürlich aus allen Teilen Österreichs kommen. Aber die jetzt nicht dort sitzen und sagen, meine Weinbauern aus der Südsteiermark wollen das nicht. Das ist ein Ansatz, der uns nicht weiter bringt. Das kann die zweite Kammer erfüllen. Das man sagt, dort soll das bis zum Exzess betrieben werden. Dass man sagt, aus jeder Kleinstregion in Österreich in der zweiten Kammer einen Repräsentanten. Und ich gebe Ihnen recht, wir werden mit dem besten Wahlrecht nur dann Fortschritte erzielen könne, wenn sich die Wähler auch mehr für ihre Wahlentscheidung interessieren. Weil auch mit einem sehr starken Persönlichkeitswahlrecht, wo ich sehr weitreichende Umgruppierungen am Stimmzettel erreichen kann und die Liste auf den Kopf stellen kann. Ich muss mich dann wesentlich mehr damit beschäftigen, wen wähle ich da eigentlich. Da geben die neuen Medien, die sozialen Netzwerke, das Internet weitreichende Möglichkeiten. Das ist aber auch nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, dem diese Technologien offenstehen. Das heißt, auch das beste Wahlrecht wird die Wähler nicht aus ihrer Verantwortung entlassen könne, sich mehr dafür zu interessieren.

Neisser:  Ich verstehe schon Ihre theoretischen Ansatz, die erste Kammer soll die Bundesinteressen per se wahrnehmen, das braucht abver auch ein neues Selbstverständnis der Abgeordneten.

Plass: Das wäre dringend notwendig.

Neisser: Da habe ich halt eine gewisse Skepsis.

Plass: Haben Sie je eine Abstimmung als Abgeordneter erlebt, wo Sie am Abend aus dem Parlament gegangen sind und sich gedacht haben, in der Früh habe ich ein ganz anderes Ergebnis erwartet. Ich glaube, in den vielen Jahren und Jahrzehnten Ihrer Polittätigkeit hat es das kein einziges Mal gegeben.

Neisser: Es hat es nur dann gegeben, wenn es Pannen bei der Abstimmung gegeben hat.

Plass: Wenn die Leute geschlafen haben oder wenn sie in der Cafeteria waren.

Neisser: Oder wenn wir falsch ausgezählt haben, das ist leider auch passiert.

Plass: Jetzt denke ich mir manchmal, wie super ist das im US-amerikanischen Repräsentantenhaus, der Senat, wo der Präsident zum Telefon greifen muss um jeden einzelnen Abgeordneten persönlich zu überzeugen, und wo das nicht so von vornherein mit Klubzwang und mit Parteigehorsam klappt. Wir müssen die Demokratie insgesamt weiterentwickeln. Und natürlich es wäre auch ein Schritt in die richtige Richtung zu selbstbewussteren Abgeordneten. Das würde bedingen, dass wir endlich wie in Deutschland die einzelnen Abgeordneten wesentlich unabhängiger machen, dass wir sie besser persönlich ausstatten, dass jeder Abgeordnete seine persönlichen Mitarbeiter bekommt. Den Verfassungsdienst ins Parlament, vom Bundeskanzleramt. Das sind ganz wichtige Fragen der Emanzipierung der gewählten Abgeordneten vor der Exekutive Regierung. Momentan haben wir den Zustand, dass sich eine Regierung eine Abstimmungsmaschinerie im Nationalrat hält.

Neisser: Das kann ich unterstreichen, das ist ja auch mein Anliegen, ein neues Selbstbewusstsein des Parlaments und damit verbunden der Parlamentarier. Wobei: Es ist auch ein starker Dialogverlust auch auf der parlamentarischen Ebene festzustellen. Ich bin ja nicht mehr drinnen, aber was ich so höre, es soll ja auch innerhalb der Fraktionen kaum mehr diskutiert werden. Es finden keine substantiellen Debatten statt. Das hat es früher noch gegeben. Wenn man im Klub die Möglichkeit gehabt hat, ausführlich zu diskutieren, kann man ein Verständnis für den Klubzwang haben. Aber wenn das nicht mehr ist - dann brauchten wir ein neues Selbstverständnis des Parlamentariers. Wenn man die Möglichkeit institutionell schafft, kann man auch hoffen, dass dann die dazupassenden Menschen in die Politik gehen.

Plass: Über die Interna des grünen Klubs kann ich dazu wenig sagen, aber was ich bestätigen kann ist, dass das derzeitige System, das derzeitige Wahlrecht, das derzeitige Parteiensystem letztendlich dazu führt, dass die visionären Ansätze, dass die schrägen Köpfe, die Querdenker in allen Parteien eher in der Minderheit bleiben oder hinausgedrängt werden. Das ist sicherlich ein Trend, der durch alle Parteien durch geht. Auch die Grünen haben viel von ihrer visionären, systemkritischen Arbeit der Anfangsjahre verloren, sind auch Teil des Systems geworden. Da würde ich mir wünschen, dass wieder mehr Feuer entsteht, das wird aus Ihrem Blickwinkel für die ÖVP genauso gelten. Und das sind selbstbewusste, freie Abgeordnete, die in erster Linie ihrem Gewissen und in zweiter Linie den Wählern verpflichtet sind. Und dann kommt lang nichts und dann kommt das Parteisekretariat und schon gar nicht der Landeshauptmann. Das ist nämlich der Übelste in dieser Kette der Abhängigkeiten. Das müsste man schaffen, dann wäre viel geschehen.

Neisser: Wenn ich in einem Zeitrahmen von 20, 25 Jahren denke, dann ist das durchaus möglich.

Plass: Sie geben mir Hoffnung.

Neisser: Das können Sie durchaus noch erleben, das ist bei mir ausgeschlossen, denn dass ich über 100 werde, ist trotz verbesserter Geriatrie nicht wahrscheinlich. (Conrad Seidl, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 14.6.2011)