Christoph Lütge: "Eine Unternehmenskultur kann man nicht einfach an die Wand hängen, wo sie keinem weh tut."

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Ethik und Wirtschaft sind nicht unbedingt ein Gegenspruch, eigentlich gar nicht – es gilt nur, gewisse Regeln einzuhalten.

Halb Deutschland lacht über den Versicherer, der seine besten Mitarbeiter zu einer Reise der besonderen Art einlädt - zum fröhlichen Pempern in einer zur Sex-Party umfunktionierten ungarischen Therme. Wie diese verhindert werden hätte können, warum Wirtschaft und Ethik keineswegs ein Widerspruch sind, wieviel von Verhaltenskodizes zu halten ist und warum Ex-IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn offenbar jahrelang ungehemmt seinen Neigungen nachgehen kann, erklärt der Wirtschaftsethiker Christoph Lütge im Gespräch mit Sigrid Schamall.

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derStandard.at: Sind Wirtschaft und Ethik ein Widerspruch?

Christoph Lütge: Auf keinen Fall! Und zwar aus mehreren Gründen: Ein erfolgreiches Unternehmen wird seine Tätigkeiten im Rahmen von entsprechenden Regeln, die Fehlverhalten wie Betrug und Diskriminierung ausschließen, durchführen. Um tatsächlich nachhaltig zu wirtschaften, müssen bestimmte Rahmenbedingungen eingehalten werden.

derStandard.at: Wie sehen diese Regelwerke im Optimalfall aus?

Lütge: Wir unterscheiden zwei Ebenen: Die Makroebene sieht Wirtschaft und Ethik auf einer erfolgswirtschaftlichen Ebene, auf der Mikroebene sollen verstärkt unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen in der Führungsebene und unter den Mitarbeitern berücksichtigt werden. Die Anforderungen an Unternehmen sind deutlich gestiegen und werden weiter steigen.

derStandard.at: Sind die Unternehmen sensibler geworden?

Lütge: Ja. Eine aktuelle Studie der Universität Halle-Wittenberg hat beispielsweise gezielt Mineralölfirmen unter die Lupe genommen. Diese Industrie hatte sehr lange ein sehr schlechtes Image und stand häufig im Fokus von Skandalen. Umso erstaunlicher war das Ergebnis: Heute arbeitet man in der Branche immer häufiger mit NGOs zusammen, mit Regierungen vor Ort und ist vermehrt in Kontakt mit vielen Regionen der Welt.

derStandard.at: Seit wann dieses Umdenken?

Lütge: Seit mindestens zehn Jahren. Noch bis Ende der 1990er-Jahre war es bei diesen Firmen durchaus üblich, sich gegen Klimaschutzziele zu stellen und sich aktiv dagegen zu verbünden. Und sie hatten kurzfristig auch nicht unwesentlichen wirtschaftlichen Erfolg damit.

derStandard.at: Langfristig war es ein Schuss ins eigene Knie.

Lütge: Und führte zu einem Strategiewechsel: Zum Teil lag es am gesellschaftlichen Umdenken, gleichzeitig waren die Nachwirkungen des Wandels zwischen 1989 bis Anfang der 2000er-Jahre allmählich verdaut; jener Zeit also, in der in den osteuropäischen Ländern die Marktwirtschaft in Gang und der gemeinsame Wirtschaftsraum Europäische Gemeinschaft beschlossen und zum Funktionieren gebracht worden war - alles Faktoren, die die Rivalisierung förderten und das nationalstaatliche Denken der Unternehmen stark aufgebrochen haben.

derStandard.at: Apropos Kultur: Was ist das für eine Unternehmenskultur, wenn Top-Manager als Belohnung vom Unternehmen zu Sex-Partys eingeladen werden?

Lütge: Die ethische Verantwortlichkeit wurde aufs Stärkste verletzt.

derStandard.at: Im Verhaltenskodex des betreffenden Versicherers heißt es, die Beschäftigten hätten sich "ethisch und korrekt" zu verhalten. Unternehmensinterne Regelwerke helfen offenbar nicht immer?

Lütge: Regelwerke dürfen nicht einfach bloß auf dem Papier stehen. Eine Unternehmenskultur kann man nicht einfach an die Wand hängen, wo sie keinem weh tut. Man muss in der Struktur des Unternehmens etwas ändern, Anreize schaffen. Ich meine damit nicht Kontrollsysteme, welche nur ein ungutes Klima schaffen würden. Ich spreche von einer gewissen Sensibilisierung. Im Fall des Versicherers muss jemand die Reise abgesegnet haben - unmöglich, dass ihm nicht klar war, dass er damit die Reputation des Unternehmens gefährdet, sobald die Sache ans Licht kommt. Dass dies geschieht, war durch die wachsende Transparenz, durch das Internet, eigentlich vorauszusehen.

derStandard.at: Sie fordern ein "Frühwarnsystem" für moralische Risiken. Wie sollte ein solches aussehen?

Lütge: Großunternehmen sollten neben bestehenden Risikoabteilungen zusätzliche Abteilungen schaffen, die ausschließlich moralische Risiken beobachtet. Nehmen wir als Beispiel die Korruption: Selbst wenn es einige Zeit geschäftlich gut läuft, wird das Unternehmen früher oder später ein Problem bekommen. Korruption zieht mittlerweile so hohe Strafen nach sich, dass sie sich selbst Großunternehmen nicht mehr leisten können.

derStandard.at: Hätte die Lust-Reise also verhindert werden können?

Lütge: Ich denke schon. Tatsache ist, dass häufig gerade bei Versicherern eine veralterte Macho-Kultur herrscht: Der typische Manager ist männlich, weiß, heterosexuell und unterscheidet sich in seinen Wertvorstellungen kaum von den anderen Managern. Man müsste die Führungsetagen stärker mit Frauen besetzen und Menschen mit unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergründen rekrutieren. Sehr schnell würde dadurch wesentlich vorsichtiger mit der Definition von "Vergnügen" umgegangen werden.

derStandard.at: Dieser "kulturelle" Wandel vollzieht sich insgesamt sehr langsam.

Lütge: Transparenz gilt oft noch als Tabu - ebenso die sexuelle Orientierung. Philipp Lahm (Verteidiger beim FC Bayern München, Anm.) sagte doch tatsächlich, er würde schwulen Fußballern bewusst raten, sich nicht zu outen. Hier erleben wir Intransparenz in Reinkultur - eine Mauschelwirtschaft. Dabei kann Diversity nur ein Vorteil für ein Unternehmen sein.

derStandard.at: Könnte diese Incentive-Reise strafrechtliche Folgen haben?

Lütge: Eine strafrechtliche Situation sehe ich vordergründig nicht. Prostitution ist weder strafbar, noch sittenwidrig. Zu klären wird sicher noch sein, ob Drogen konsumiert wurden. Ich bin kein Moralist, der sich aufspielen will. Wenn jemand solche Vergnügungen privat in Anspruch nimmt, ist das kein Problem. Als Unternehmen eine solche Veranstaltung durchzuführen, ist allerdings ethisch hoch problematisch. Sollten die Kosten dafür, wie es kolportiert wird, vom Steuerzahler zu begleichen sein, wird das ein Jurist klären müssen.

derStandard.at: Wirft die Causa ein Schmuddelimage auf die gesamte Branche?

Lütge: Ich denke schon. Jürgen Klopp (Trainer bei Borussia Dortmund, Anm.) hat sich bereits als Werbeträger verabschiedet. Er wird möglicherweise nicht der Letzte sein. Auch sonst schadet die ganze Affäre meiner Ansicht nach der Versicherungsbranche. Man wird weitergraben, um unethische Dinge ans Licht zu bringen. Positiv könnte sein, dass Vorstände sich nun vermehrt Gedanken über eine Änderung der Führungskultur machen. In der Automobilbranche oder der Industrie hat sich bereits viel getan. Die Versicherungen werden nicht umhin kommen, nachzuziehen. Vielleicht haben sie sich bislang zu mächtig gefühlt.

derStandard.at: Schwindet Ethik mit zunehmender Macht?

Lütge: Ich möchte mit einem Zitat von Lord Emerich Edward Dalberg Acton antworten: "Macht korrumpiert, absolute Macht korrumpiert absolut." Eine Macht, die sich nicht mehr kontrolliert sieht, neigt stärker dazu, unethisch zu werden. Einer der wichtigsten Kontrollmechanismen ist der Wettbewerb. Selbst Unternehmen, die sich in sicherer Position wähnen, müssen immer damit rechnen, dass Rivalen aufkommen. Dasselbe gilt für Führungspersonen. Wer garantiert ihnen, dass sie nicht bei der nächsten Hauptversammlung abgesetzt werden? Man kann nicht generell sagen, dass durch Macht ein Wertverfall einsetzt, die Versuchung steigt aber bei unkontrollierter Macht, wie man jetzt beispielsweise bei Dominique Strauss-Kahn ganz drastisch sieht.

derStandard.at: Kann man sagen, dass es sich um die Problematik einer bestimmten Generation handelt?

Lütge: In gewisser Weise schon. Jemand, der sich erhaben glaubt über bestimmte Regularien und Normen, ist wahrscheinlich anfälliger. Bestimmte Dinge, die man sich vor 20 Jahren noch erlauben konnte, wären heute undenkbar. Heute steht jeder bekannte Mensch viel mehr unter Beobachtung durch die Medien, das Internet, usw.

derStandard.at: Womit die Vorbildwirkung der Älteren schwindet.

Lütge: Das drastische Ende von Strauss-Kahn wird auf die jüngere Generation wohl eine denkbar abschreckende Wirkung haben.

derStandard.at: Warum stehen so viele Frauen zu ihren "gefallenen" Männern?

Lütge: Meistens dauern diese Partnerschaften schon sehr lange an und sind nicht mehr unbedingt durch die Liebe im alten Sinn geprägt, sondern werden eher als Zweckgemeinschaft für ein bestimmtes Ziel gesehen.

derStandard.at: Kann man den Faktor "Macht" als Beziehungsgrund sehen?

Lütge: Bedingt. Bei Arnold Schwarzenegger könnte es allerdings so gewesen sein. Nach seiner Amtszeit als Gouverneur kommt sein Seitensprung heraus und seine Frau trennt sich von ihm. In diesem Fall ist in Sachen Macht nichts mehr zu erwarten. Hätte er die Chance gehabt, Präsident der USA zu werden, wäre sie vielleicht bei ihm geblieben. (derStandard.at, 14.6.2011)