Der Bildpunkt. Zeitschrift der IG BILDENDE KUNST erscheint vier Mal im Jahr. Jede Ausgabe widmet sich einem Themenschwerpunkt. Zentral sind dabei ästhetische, aktivistische und theoretische Strategien samt ihrer gegenseitigen Verschränkungen und Überschneidungen. Drei künstlerische Positionen brechen jeweils das Textmonopol. Thema der aktuellen Ausgabe: "anders handeln"

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Cover: Bildpunkt/Toledo i Dertschei

Schon der Titel hat Seltenheitswert: Economics and Utopia von Geoffrey Hodgson, erschienen 1999, bringt zwei Begriffe zusammen, die üblicherweise keine enge Beziehung unterhalten. In seinem Buch kritisiert der Ökonom sowohl Sozialismus als auch neoliberalen Marktindividualismus als Blaupausen-Utopien, die jeweils bestimmte Systemeigenschaften verabsolutieren (die einen den Staat, die anderen den Markt), und dabei ausblenden, dass jede Wirtschaftsweise auf eine Vielfalt von Koordinationsmechanismen (Markt, Staat, Kooperation, ...) angewiesen ist.

Aus dem Trend zur Wissensgesellschaft, der in den 1990er Jahren allerorts diagnostiziert wurde, und der daraus folgenden immer stärkeren Bedeutung von Wissen in der Welt der Arbeit leitet Hodgson stärkere Ermächtigung der Arbeitenden ab. Dieser Trend könne zu einem "Evotopia" jenseits von Kapitalismus und Sozialismus entwickelt werden, in dem die bislang Lohnabhängigen stärkere Kontrolle über den Produktionsprozess ausüben - im Kontext einer Mischwirtschaft aus Markt, Staat und Kooperativen. Der Autor legt damit eine etwas nüchternere Version jener Hoffnungen vor, die auch Philosophen wie Antonio Negri und Michael Hardt (Empire, 2000) in die Entstehung der Wissensgesellschaft gelegt haben, und damit um die Jahrtausendwende große Aufmerksamkeit fanden. 

Das Besondere an Hodgsons Buch ist somit weniger sein Inhalt als die Tatsache, dass es ein Ökonom ist, der sich dem Thema der wirtschaftlichen Utopie nähert. Denn das Wort "Utopie" hat in den Wirtschaftswissenschaften keinen guten Namen. Wirtschaftsfachleute tendieren dazu, als Apostel von Sachzwängen aufzutreten, und die Beschäftigung mit Utopien - wenn nicht überhaupt zu verhöhnen - an andere Disziplinen (Philosophie, Politikwissenschaft, Kunst ...) zu verweisen.

Die auf den rechten Philosophen Thomas Carlyle zurückgehende Charakterisierung der Wirtschaftswissenschaft als "dismal science", als trostlose und düstere Wissenschaft, kommt heute in einer Dominanz von Theorien zum Ausdruck, die die Existenz von wirtschaftspolitischen Handlungsmöglichkeiten, und von alternativen Organisationsweisen für Produktion, Konsum und Verteilung kleinreden und stattdessen die flächendeckende Überlegenheit marktwirtschaftlicher Mechanismen behaupten. Es gibt zwar ökonomische Theorien, die sich der Suche nach Alternativen verschrieben haben - Marxismus, Institutionalismus (zu dieser Schule gehört der eingangs genannte Geoffrey Hodgson), Feminismus, Keynesianismus, Regulationstheorie etc. -, doch sie fristen eine zusehends bedrohte Nischenexistenz in den etablierten akademischen Forschungseinrichtungen.

Der zunehmende Konformitätsdruck, den die herrschende Theorie und die Wissenschaftspolitik auf alternative Ansätze ausüben, hat zur Bildung selbst organisierter Zusammenhänge außerhalb von Universitäten geführt. Der in Wien ansässige Beirat für gesellschafts-, wirtschafts- und umweltpolitische Alternativen (BEIGEWUM) ist ein Beispiel für einen solchen Zusammenhang kritischer Wirtschafts- und SozialwissenschafterInnen.

Kunst als Utopie-Refugium?

Angesichts der Marginalisierung von utopischem Denken in den Wirtschaftswissenschaften mag manch eine/r die Kunst als jenen gesellschaftlichen Bereich wähnen, in der die Utopie noch eine Heimat findet. Sind nicht KünstlerInnen zuständig für das, was den gesellschaftlichen Zwängen entkommt? Der in der Kunstkritik viel zitierte Philosoph Jacques Rancière schreibt den Künsten die Aufgabe bzw. Fähigkeit zu, etablierte Denk- und Wahrnehmungskategorien durcheinanderzubringen, die „Aufteilung des Sinnlichen" zu verschieben, und so auch Alternativen denkbar zu machen.

Wie ist es um den Status von ökonomischen Utopien in der Kunst bestellt? Zwei Stichproben: Ein Blick in das Stichwortverzeichnis des von den Ikonen der linken Kunstkritik rund um die Zeitschrift October, Hal Foster, Rosalind Krauss, Yve-Alain Bois und Benjamin Buchloh herausgegebenen Bands Art since 1900 erweist sich erst mal als Fehlanzeige: Hier finden sich weder der Begriff Ökonomie noch jener der Utopie. Ein zweiter Anlauf: In der unübersichtlichen Kunstwelt stellt das Projekt Utopia Station, das Molly Nesbit, Hans Ulrich Obrist und Rirkrit Tiravanija 2003 für die Biennale in Venedig kuratiert haben, einen prominenten Versuch dar, zeitgenössische utopiebezogene künstlerische Arbeiten zu versammeln. Unter 158 Poster-Arbeiten, die in der online-Version zu sehen sind, haben gerade mal drei einen expliziten thematischen Ökonomie-Bezug ("anonymus" und "Bruce Mau Design" knüpfen an den Kampf um freien Zugang zu Wissen an, Gülsün Karamasutafa weist mit dem Slogan "invest in utopias" auf die Notwendigkeit von Ressourcen für Alternativen, aber auch auf die Gefahr kapitalistischer Vereinnahmung hin).

Scheinbar geht also die Zuschreibung einer Zuständigkeit an die Kunst, ökonomische Utopien zu entwickeln, ins Leere (ich meine damit die Inhaltsebene von Kunst. Der Frage, ob künstlerische Arbeitspraktiken mit alternativen Ökonomien in Beziehung zu bringen sind, gehe ich hier nicht nach, vgl. dazu u.a. den Bildpunkt vom Frühjahr 2009 zum Thema immaterielle Arbeit). Ist das ein Indiz für allzuviel Respekt vor Wirtschaft und dem Deutungsmonopol von Wirtschaftsfachleuten auch im vermeintlichen Freiraum Kunst? Vielleicht; möglicherweise aber lassen KünstlerInnen sich auch nicht einfach aufbrummen, was andere Gebiete als Drecksarbeit betrachten und pikiert von sich weisen.

Kunst als Utopie-Spiegel?

Dies lässt sich anhand einer Arbeit des in Wien lebenden Künstlers Oliver Ressler veranschaulichen, der sich ungewöhnlich explizit mit dem Thema ökonomischer Alternativen beschäftigt hat. Auch Ressler hat in seinem Projekt Alternative Economics, Alternative Societies die Erwartung, mit künstlerischen Mitteln über ökonomische Utopien nachzudenken, zurückgewiesen. Stattdessen hat er diese Zuweisung geschickt subvertiert, indem er seinerseits SozialwissenschafterInnen und AktivistInnen befragt hat und sich auf eine Rolle als Medium zurückgezogen, somit den Ball zurückgespielt hat.

Ressler hat unterschiedliche Konzepte, Modelle und Utopien für alternative Ökonomien und Gesellschaften auf der ganzen Welt gesammelt und von zentralen Proponentlnnen vorstellen lassen. Zu jedem Konzept wurde ein Interview geführt, und auf Video aufgezeichnet. Die Videos bilden einen unhierarchisch gegliederten Pool, der Anregungen und Vorschläge zum Nachdenken über gesellschaftliche Alternativen und Handlungsmöglichkeiten anbietet. Künstlerisch folgt Ressler einem dokumentarischen Ansatz, die ästhetische Formgebung ist betont zurückhaltend, ja reduktionistisch.

Im Wesentlichen sind drei Zugänge enthalten: Eine erste Gruppe von Gesprächen enthält Berichte über konkrete historische Modelle: Todor Kuljic stellt die Arbeiterselbstverwaltung in Jugoslawien dar. Salome Molto spricht über die Arbeiterkollektive während der Spanischen Revolution (1936-38), Alain Dalotel über die französische Commune (1871). Eine zweite Gruppe beruft sich auf ein bestimmtes Prinzip, auf dem aufbauend der Umbau bzw. Aufbau der Gesellschaft erfolgen soll. Christoph Spehr plädiert für Freie Kooperation, John Holloway dafür, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, und Nancy Folbres Denken betont die Bedeutung der Pflege- und Sorgearbeit. Eine dritte Gruppe von Beiträgen enthält ausdifferenzierte Ausarbeitungen alternativer ökonomischer Organisationsweisen von Gesellschaft: Hier stellt p.m. sein bolo'bolo-Konzept vor, Michael Albert erklärt "partizipative Ökonomie", Takis Fotopoulos definiert "Inclusive Democracy", Marge Piercy spricht über die utopisch-feministischen Gesellschaften ihrer Romane. Schließlich gibt Karin Schönpflug zur Ergänzung einen wissenschaftlichen Überblick über feministische Utopien.
Das Projekt ließe sich ohne Zweifel noch erweitern, man denke an die Kibbuz-Bewegung, die Utopie des Open Source Prinzips, Visionen ökonomischer Transformation durch das Vordringen immaterieller Arbeit etc., aber schon die bestehende Sammlung ist in ihrer Breite einzigartig. 

Deshalb und weil die Form des ExpertInneninterviews formal umstandslos an sozialwissenschaftliche Darstellungskonventionen anschlussfähig ist, hat sich der BEIGEWUM an der Arbeit interessiert gezeigt. Die Interviews wurden gemeinsam mit Ressler transkribiert und in der Vierteljahreszeitschrift Kurswechsel (Heft 1/2005) veröffentlicht, die Arbeit sozusagen in den sozial- bzw. wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs re-importiert.

Utopien ausmalen?

Abseits dieser auf Basis von Formähnlichkeit gelungenen Kooperation bleibt die Frage unbeantwortet, ob es auch Formen der Zusammenarbeit zwischen Kunst und Sozialwissenschaften geben kann, in denen der künstlerische Beitrag genuiner ausfällt, stärker dem ästhetisch-formalen zugewandt ist. Ein solches Projekt ist derzeit in Gestalt eines Buches mit dem Arbeitstitel Imagine Economy in Vorbereitung. 

Ausgangspunkt ist die Überlegung, dass Sprechweisen über bzw. Darstellungsweisen von Wirtschaft einen Einfluss auf ihren Gegenstand haben. Im Verlauf der 2007 ausgebrochenen Wirtschaftskrise hat sich einmal mehr gezeigt, dass selbst in Zeiten eklatanter Fehlentwicklungen und größter öffentlicher Aufmerksamkeit den Beharrungskräften des Status Quo ein kritischer ExpertInnendiskurs nicht ausreicht, um Veränderungen einzuleiten. Statt in eine grundsätzliche Debatte über Kapitalismus, Ungleichheit und die Rolle des Finanzsektors zu münden, wurde die öffentliche Debatte schnell eingeengt auf Gier und Gehaltsexzesse von Bankern. Durchsetzen konnte sich ein Diskurs, der die Krise als Betriebsunfall in einem Räderwerk begreift, das nach einer moralischen Läuterung und kleineren Anpassungen zu business as usual zurückkehren kann. Dass dies gelang, hat vor allem mit Machtverhältnissen zu tun, aber auch mit Diskurs-Attraktivität und -Anschlussfähigkeit alternativer Angebote.
Wenn Finanzsektor-Probleme auf "Giftmüll"-Wertpapiere statt fundamentale Systemdefizite zurückgeführt werden; wenn harte Einschnitte von Staaten als Preis für die Inanspruchnahme von „Rettungsschirmen" verlangt werden, die eigentlich vorwiegend deren Gläubigerbanken retten; wenn Sparmaßnahmen mit Hinweis auf den "nervösen" Markt gerechtfertigt werden: In all diesen Fällen sind Metaphern am Werk, die mit einem bildhaften Ausdruck eine bestimmte Lesart eines Sachverhalts hervorheben und andere Aspekte ausblenden, ohne das explizit zu argumentieren. Können kritische Diskurse durch Arbeit an attraktiven Metaphern ihre Durchsetzungskraft verbessern? Können wir die Entstehung ökonomischer Utopien durch eine (Wort- und Bild-)Sprache in Gang setzen, die die Einfallskräfte mobilisiert? An diesen Fragen arbeitet der BEIGEWUM mit den KünstlerInnen Linda Bilda, Eva Vasari, elffriede und Laas in den nächsten Monaten. Den Prozess begreifen wir als gemeinsames "Ausmalen" im Sinne, wo ästhetische und sozialwissenschaftliche Expertisen in Austausch treten, als eine Art Probelauf mit Vorschlagscharakter für ein Imaginieren alternativer Ökonomien. 

Weil sich in etablierten Fachdiskursen scheinbar niemand so recht zuständig fühlt für alternative ökonomische Entwürfe, fällt das Thema offenbar selbstorganisierten außerakademischen Zusammenhängen zu. Die haben den Vorteil, sich um einschränkende Disziplinen-Grenzen nicht kümmern zu müssen, und schon mal ein wenig alternative Zusammenarbeits-Ökonomie zwischen KünstlerInnen und SozialwissenschafterInnen erproben zu können.

(Dieser Text erscheint in Bildpunkt. Zeitschrift der IG Bildende Kunst, Wien, Sommer 2011, "anders handeln".
Eine Kooperation zwischen Bildpunkt und derStandard.at/Kultur)