Mustafa Akyol ist ein politischer Kommentator und Autor. Er lebt und arbeitet in Istanbul. Im Juli erscheint von ihm: "Islam without Extremes: A Muslim Case for Liberty".

Mustafa Akyol nimmt am Freitag im Wiener Radiokulturhaus (19 Uhr) an einer Diskussion zum Thema "European Islam and Muslim neighbours – Fears and Opportunities" teil. Weiters am Panel: Gerald Knaus (Europäische Stabilitätsinitiative, Moderator), Sibylle Hamann (freie Journalistin, Autorin), Michael Thumann (Die ZEIT-Koresondent, tbc) und Zeynep Goknil Sanal ("Capital City Women's Platform" in Ankara).

 

Die Diskussion wird von der Erste Stiftung und der European Stability Initiative organisiert und findet in englischer Sprache statt.

Foto: www.mustafaakyol.org

Am Sonntag wird in der Türkei ein neues Parlament gewählt. Umfragen bescheinigen der AKP einen sicheren Sieg. Autor und Journalist Mustafa Akyol macht sich Sorgen um die türkische Demokratie. Nach einem reformorientierten Anfang der AKP vor acht Jahren würde sich die Partei jetzt nur noch um Machterhalt kümmern. Sollte die AKP bei den Wahlen am 12. Juni über zwei Drittel der Stimmen bekommen, hätte Erdogan die Handhabe, so viel Macht wie möglich auf sich zu vereinen. Verhindern könnte dies ein gutes Abschneiden der nun runderneuerten CHP, so Akyol.

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derStandard.at: Am Sonntag wird in der Türkei gewählt. Überraschungen wird es wohl keine geben, der Sieg der AKP gilt als sicher. Ist die AKP so stark oder die anderen Parteien in der Türkei so schwach?

Mustafa Akyol: Die AKP ist stark. Die Umfragen gehen davon aus, dass die AKP zumindest das Ergebnis von 2007 wird halten können. Damals erreichte die Partei 46,6 Prozent. Die Partei steht deswegen so gut da, weil sie der Türkei in den letzten acht Jahren einen starken wirtschaftlichen Aufschwung beschert hat. Die Leute sind zufrieden mit dem wirtschaftlichen Fortschritt und der Öffnung der Türkei. Aber die Ansprüche an die Demokratie gehen etwas zurück. Das ist es, was vielen liberal Eingestellten in der Türkei Sorgen macht.

derStandard.at: Steuert die Opposition dagegen?

Mustafa Akyol: Die zweitgrößte Partei der Türkei ist die - ehemals kemalistische - CHP (Republikanische Volkspartei, Anm.). Die hat in der letzten Zeit eine Öffnung in eine liberalere Richtung erfahren, davor war sie eher konservativ ausgerichtet und hat Reformen im Parlament boykottiert. Sie tritt nun als rundumerneuerte Partei mit dem neuen Parteivositzenden Kemal Kılıçdaroğlu an. Das interessante dieser Wahl wird nicht sein, wieviel Prozent die AKP bekommt, die wird gewinnen. Interessant wird sein, wieviel die CHP an Stimmen zugewinnt und inwiefern dieser neue Kurs belohnt und gestärkt wird.

derStandard.at: Trotzdem ist es natürlich nicht unwesentlich, wieviel Prozent die AKP bekommt. Bei einer Zweidrittel-Mehrheit könnte Erdogan bequem und im Alleingang Verfassungsänderungen durchführen.

Mustafa Akyol: Ja, darauf spekuliert die AKP. In meinen Augen wäre das aber keine gute Idee und sicher kein Dienst an der Demokratie. Wir brauchen eine konsensbasierte neue Verfassung. Die Befürchtungen gehen in die Richtung, dass Erdogan versuchen wird, so viel Macht wie möglich auf sich zu vereinen in Richtung eines Ein-Parteien Präsidialsystems. Das sollte tunlichst vermieden werden.

derStandard.at: Würde auch der Säkularismus - die verfassungsrechtlich festgeschriebene Trennung von Staat und Religion - in Frage gestellt werden?

Mustafa Akyol: Erdogan wird die Türkei nicht in eine radikale Republik verwandeln, wie die Säkularisten befürchten. Aber der Säkularismus würde eventuell den Vorstellungen der AKP angepasst werden. Anders als der kemalistische Säkularismus würde die AKP vermutlich eine Variante formulieren, die der Religion gegenüber toleranter ist, wie nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten. Aber meine Sorge ist nicht, dass die AKP zu religiös ist, sondern, dass sie beginnt, zu mächtig zu werden. Mit all seinen Nebenerscheinungen: Leute von anderen Parteien finden plötzlich keine Jobs mehr, Medien- und Meinungsfreiheit wird eingeschränkt etc.

derStandard.at: Ist die AKP noch eine Reformpartei, wie sie das zu Beginn der Fall war?

Mustafa Akyol: Nicht in der Weise wie sie es einmal war. Sie sprechen zwar stolz über Reformen, die sie in den vergangenen Jahren durchgeführt haben, aber über die Zukunft wird nicht mehr gesprochen. Im aktuellen Wahlkampf sind vielmehr Themen wie große Infrastrukturprojekte wie der Bosporuskanal durch Istanbul oder Ähnliches am Programm der AKP.

derStandard.at: Auch nach einigen gesetzlichen Verbesserungen für die Kurden bleibt das Kurdenthema ein Problem in der Türkei. Wie wichtig ist das Thema im Wahlkampf?

Mustafa Akyol: Das Kurdenproblem ist ein sehr, sehr sensibles, äußerst wichtiges Thema mit Sprengkraft und natürlich auch vor der Wahl präsent. Es gab einige Verbesserungen für die Kurden, das stimmt. Nicht zuletzt deswegen wählten 2007 über die Hälfte der Kurden auch die AKP. Es existieren natürlich kurdische Nationalparteien. Meine Hoffnung gründet sich auch auf den neuen Parteichef der CHP (Kemal Kilicdaroglu stammt aus einer alevitisch-kurdischen Familie, Anm.), der sich für die Sache der Kurden einsetzen wird.

Sollte die CHP in die Regierung kommen, könnten auch in der Verfassung kurdische Rechte festgeschrieben und Ungerechtigkeiten ausgeglichen werden (kurdischer Unterricht in Schulen ist immer noch verfassungsrechtlich verboten, auch wenn mittlerweile kurdischsprachige Radio- und Fernsehsendungen erlaubt sind, Anm.). Es ist natürlich für den Demokratisierungsprozess nicht unbedingt hilfreich, dass die PKK jedes Mal, wenn ihr etwas nicht passt, eine Bombe hochgehen lässt.

derStandard.at: Welche Parteien könnten außer der AKP und der CHP eine maßgebliche Größe erreichen?

Mustafa Akyol: Ich denke, dass die MHP, die Partei der Nationalistischen Bewegung, ebenfalls die 10-Prozent-Hürde schaffen könnte. Chancen hat auch der Block unabhängiger Kandidaten, der den Kurden nahesteht.

derStandard.at: Welche Rolle spielt die EU und die Annäherung der Türkei bei dieser Wahl?

Mustafa Akyol: Wir mögen die EU, aber die EU mag uns nicht. Neuesten Umfragen zufolge wollen die Menschen in der Türkei nach wie vor der EU beitreten, gleichzeitig haben sie aber die Befürchtung, dass die EU die Türkei nicht vollwertig aufnehmen wird. Deshalb lässt der Enthusiamus für das Projekt und das Thema EU hier auch langsam nach. (mhe, derStandard.at, 9.6.2011)