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Der Demonstrationszug am 23. Jänner 2011.

Foto: REUTERS/Francois Lenoir

Zur Person: Thomas Decreus schreibt derzeit seine Doktorarbeit im Themengebiet politische Philosophie an der Universität Leuwen. Der 26-Jährige lebt in Antwerpen. Seinen Blog finden Sie hier.

Foto: Decreus

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Die Ergebnisse der Parlamentswahl am 13.6.2010.

Quelle: APA

Belgien ist mittlerweile länger ohne Regierung als der Irak. König Albert II. beauftragt Politiker nach Politiker mit der Regierungsbildung. Bisher sind sie alle gescheitert. Thomas Decreus hat gemeinsam mit vier anderen im Jänner dieses Jahres zu einer Demonstration gegen den politischen Stillstand im Land aufgerufen. Rund 30.000 Menschen haben an dem Marsch durch Brüssel teilgenommen. Damals im Jänner war Belgien mehr als 200 Tage ohne Regierung. Am 13. Juni jährt sich die Parlamentswahl zum ersten Mal. Regierung gibt es immer noch keine. Über die Gründe dafür und mögliche Auswege hat derStandard.at mit Decreus gesprochen.

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derStandard.at: Bemerken Sie in Ihrem Alltag überhaupt, dass es in Belgien seit fast einem Jahr keine Regierung gibt?

Decreus: Ja, man bemerkt es schon. Die Medien berichten natürlich darüber. Aber man fühlt es nicht. Alles geht weiter wie bisher. Es ist eben eher eine politische Krise. Auf der Straße bemerkt man davon nichts.

derStandard.at: Gibt es Reformbedarf bei einigen großen Themen, die wegen der fehlenden Regierung nicht angegangen werden können?

Decreus: Sicherlich. Die Sozialpolitik ist Aufgabe des Bundesstaates. Aber weil wir keine Regierung haben, kann auf diesem Gebiet keine Entscheidung getroffen werden. Ganz Europa ist in einer Krise und es wäre notwendig darauf zu reagieren und unser soziales Sicherheitsnetz daran anzupassen. Das kann im Moment aber nicht passieren. Das wird in der Zukunft ein großes Problem. Denn je länger wir warten müssen, desto mehr kann sich die soziale Krise verschärfen und dann wird es noch schwieriger eine Lösung zu finden.

derStandard.at: Sie waren einer der fünf Organisatoren der großen Demonstration in Brüssel im Jänner dieses Jahres, die sich gegen den politischen Stillstand richtete. Planen Sie etwas für den 13. Juni, den Jahrestag der Wahlen?

Decreus: Wir bemerken unter den Teilnehmern des Protestes im Jänner eine Radikalisierung - aber in eine positive Richtung. Unsere Kritik wird besser gehört und geht in Richtung Demokratiekritik. Derzeit versuchen wir Kontakt mit den Demonstranten in Spanien herzustellen - es gibt auch schon in Belgien erste besetzte Plätze und öffentliche Veranstaltungen.
Auf der anderen Seite wird es immer schwieriger die Öffentlichkeit zu erreichen. Die Bevölkerung ist frustriert von der politischen Krise und will sich nicht mehr damit beschäftigen. Die Gleichgültigkeit nimmt zu - das ist meiner Meinung nach eine gefährliche Entwicklung.

derStandard.at: Angenommen es gibt Neuwahlen. Was wäre das Ergebnis? Würden die Nationalisten und Separatisten Stimmen dazugewinnen?

Dercreus: Das ist was alle Umfragen zeigen: Die Nationalisten würden in Flandern gewinnen und die Sozialisten in der Wallonie. Das Ergebnis wäre also genau das gleiche wie bei den Wahlen vor einem Jahr. Das ist genau das Problem. Deswegen wagt niemand Neuwahlen auszuschreiben.

derStandard.at: Wie würden Sie jemandem in zwei bis drei Sätzen erklären, warum es in Belgien nach einem Jahr nicht möglich ist eine Regierung zu bilden?

Decreus: Es ist eine Krise des politischen Vertrauens. Die Politiker vertrauen einander nicht mehr und sind aus verschiedenen Gründen nicht mehr in der Lage zu kooperieren. Sie sind hauptsächlich an strategischen Themen interessiert: Es geht nur darum so viele Stimmen wie möglich zu bekommen. Da werden Kompromisse schwieriger. Es gibt aber auch ideologische Gründe: Das einzige Ziel der Nationalisten ist die Unabhängigkeit von Flandern. Es ist schwer mit Leuten über die Zukunft eines Landes zu verhandeln, von dem sie sich eigentlich lossagen wollen. Auch die Verhandlung selber - zwischen den flämischen Nationalisten, die relativ weit rechts einzustufen sind, und den Sozialisten aus der Wallonie, die auf der linken Seite des politischen Spektrums stehen - sind sehr schwierig. Der Konflikt zwischen links und rechts ist hier sehr schwer zu lösen.

derStandard.at: Derzeit ist der Vorsitzende der wallonischen Sozialisten Elio Di Rupo mit der Regierungsbildung beauftragt. Wird auch er scheitern?

Decreus: Ich nehme an, auch er wird scheitern. Die belgischen Journalisten scheinen sich einig zu sein, dass wir nicht vor Oktober eine neue Regierung haben werden.

derStandard.at: Warum erst im Oktober?

Decreus: Es könnte natürlich auch erst später passieren. Aber über die Sommermonate steht der politische Betrieb still. Deswegen wird als frühester Termin der Herbst angenommen.

derStandard.at: Welchen Ausweg aus dieser Pattsituation würden Sie vorschlagen?

Decreus: Ich denke - und das ist der Grund warum wir die Proteste organisiert haben - es muss sich etwas grundsätzlich verändern. Und solche Veränderungen können immer nur von der Bevölkerung ausgehen. Ich denke dabei nicht an eine Revolution, aber es braucht wirklich massive Proteste, damit die Politiker ihre Einstellung ändern und den Leuten zuhören. Von alleine wird sich nichts verändern, weil auch die Politiker in ihrem System gefangen sind. Der Anstoß für Veränderung muss von außen kommen. Welche Art von Veränderung das sein wird, weiß ich auch nicht.

derStandard.at: Wenn belgische Politiker keine Regierung zusammen bringen, vielleicht könnte ein internationaler Vermittler helfen?

Decreus: Das ist eine oft vorgeschlagene Lösung. Aber ich denke, das funktioniert nicht. Niemand würde diesen Vermittler akzeptieren. Bald würde der Eindruck entstehen, dass er sich auf eine bestimmte Seite schlägt. Kein Politiker würde das akzeptieren, weil so der Eindruck entstehen würde, sie selbst wären unfähig.

derStandard.at: Wenn es so schwierig ist, gemeinsam eine Lösung zu finden, warum überlegt man sich nicht den Vorschlag der Nationalisten und teilt das Land?

Decreus: Das Hauptproblem dabei ist Brüssel. Niemand will die Hauptstadt verlieren. Wichtige Internationale Organisationen haben hier ihren Sitz. Wer Brüssel aufgibt, verliert auch einen Wirtschaftsfaktor - das wollen weder die Flamen noch die Wallonen riskieren. Es gibt auch viele andere ganz pragmatische Punkte, die gegen eine Teilung des Landes sprechen.

derStandard.at: Vielleicht könnte die EU Brüssel zu ihrer Hauptstadt machen und auch verwalten?

Decreus: Das wäre eine Möglichkeit (lacht). Aber auch wenn Flandern unabhängig wird, ist das Land einfach zu klein, um Wichtiges, wie soziale Reformen angehen zu können. In Flandern leben sechs Millionen Menschen. Das ist nicht viel. Es ist besonders riskant in wirtschaftlich schwierigen Zeiten ein solches Unterfangen umzusetzen. Ich bin nicht gegen die Unabhängigkeit von Flandern, aber es ist fast unmöglich das zu organisieren.

derStandard.at: Auch andere Länder haben verschiedene Sprachgruppen, wirtschaftlich unterschiedlich erfolgreiche Regionen, die Schweiz zum Beispiel. Warum ist es gerade für Belgien so schwer eine gemeinsame Regierung zu bilden?

Decreus: Ein großer Unterschied ist, dass wir nur zwei Gruppen in Belgien haben. Sobald es drei oder mehr Gruppen gibt, fällt der starke Antagonismus wie es ihn in Belgien gibt weg. Wenn man nur einen Opponenten hat ist es leichter, in eine schwere Auseinandersetzung zu geraten. (mka, derStandard.at, 8.6.2011)