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Die arabische Reformbewegung jubelt, hier im Jemen, davor in Tunesien und Ägypten – und wer fängt die Protagonisten auf, wenn sie wieder auf dem Boden angekommen sind?

Foto: dapd/Hani Mohammed

Europa muss sich den neuen Herausforderungen im arabischen Raum stellen. Visionen und Großzügigkeit statt technokratischer Nachbarschaftspolitik sind gefragt – auch als Beitrag zur Sicherheitsarchitektur.

Die Antwort Europas auf den arabischen Frühling hat Ambition, Fantasie und Großzügigkeit vermissen lassen. Die Worte und Taten der europäischen Politiker fokussierten zu stark auf die Eindämmung des Migrantenstroms, anstatt die historische Chance für eine Neubewertung der Beziehungen Europas zu seinen südlichen Nachbarn in den Vordergrund zu stellen.

Die langfristigen Konsequenzen des Arabischen Frühlings lassen sich noch nicht absehen. Nach der jahrzehntelangen Herrschaft autoritärer Systeme besteht in Tunesien und Ägypten nun die Hoffnung auf pluralistischere und zugänglichere Regierungen. In Marokko, Jordanien und einigen Golfstaaten könnte es auch ohne schmerzhafte Revolutionen zu Reformen kommen. Und sogar die Gewalt in Syrien, im Jemen und in Libyen könnte letztlich einen positiven Wandel bewirken. Welche Chancen und Gefahren die Zeit auch immer bringen mag, die kurzfristige politische Instabilität führt bereits jetzt in vielen Ländern der Region zu einer wirtschaftlichen Krise.

Das gilt insbesondere für jene Länder, die kein Erdöl exportieren oder deren Industrie zum Erliegen gekommen ist – wie in Libyen. Einem Bericht des Institute of International Finance zufolge könnten der Einbruch der Einnahmen aus dem Tourismus, die Kapitalflucht und die anziehende Inflation zu einem Rückgang des realen BIP-Wachstums in den nicht erdölexportierenden Ländern – Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Syrien und Tunesien – von durchschnittlich 4,4 Prozent im Jahr 2010 auf 0,5 Prozent in 2011 führen.

Diese wirtschaftlichen Herausforderungen könnten in Verbindung mit den zugrunde liegenden demografischen Entwicklungen sowie der Zunahme von sozialer Ungerechtigkeit, Arbeitslosigkeit und Korruption die weitere Entwicklung zu einem echten Arabischen Frühling gefährden. Die EU sollte alles Mögliche unternehmen, um dieses Szenario zu vermeiden. Die in der arabischen Welt entstandenen Bewegungen zur Verteidigung der Ehre ("Dignity Movements") strebten keinen Anschluss an die westliche Welt an. Es handelte sich um den Versuch, die Bürger dieser Länder von innen heraus zu emanzipieren. Die EU – deren Schicksal mit der arabischen Welt durch Migration, Energie und sicherheitspolitische Faktoren sowie durch Jahrhunderte historischer und kultureller Bindungen verknüpft ist – sollte großes Interesse daran haben, dass diese jungen Revolutionen erfolgreich sind, um das Aufkommen weniger wohlmeinender Konterrevolutionen zu verhindern. Nicht zuletzt in dieser frühen Phase wird es entscheidend sein, dass die EU die liberalen und demokratischen Kräfte, die die Rechte von Minderheiten und Frauen sowie Grundfreiheiten wie Meinungsfreiheit, Religions- und Pressefreiheit befürworten. Es ist dringend nötig, dass der Arabische Frühling ein Frühling für alle wird, nicht nur für eine neue Elite.

Der EU fehlt es ja nicht an Instrumenten. Die innereuropäischen Diskussionen fokussierten darauf, wie die EU politische Reformen durch die Beobachtung von Wahlen, die Förderung politischer Parteien und Programme sowie rechtsstaatlicher Prinzipien und eines Übergangsrechts unterstützen kann. Die EU sollte ein unabhängiges Pendant der National Endowment for Democracy (eine US-Non-Profit-Organisation zur Förderung der Demokratie mit öffentlichen Geldern) einrichten. Dieses Organ könnte jedem einzelnen Land der Region maßgeschneiderte Unterstützung bieten sowie die Möglichkeit eines Beitritts arabischer Länder zum Europarat prüfen. Die Bürger dieser Länder könnten so den Schutz des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Anspruch nehmen.

Vision von Nachbarschaft

Die EU wird kaum glaubwürdig sein, wenn sie nicht konkrete Schritte zum Schutz dieser fragilen Volkswirtschaften unternimmt. Die EU könnte vieles tun, um Tunesien und Ägypten kurzfristig zu helfen: symbolische Versicherung, dass Touristen sicher sind; Zugang für landwirtschaftliche Produkte zu den EU-Märkten, um die Einkommensverluste durch den brachliegenden Tourismus zumindest teilweise zu kompensieren; Anlagevehikel, um kleine und mittlere Unternehmen zu unterstützen, und Anerkennung von tausenden Flüchtlingen aus Libyen und Unterstützung der Aufnahmeländer. Auf längere Sicht muss die EU eine attraktive wirtschaftliche und politische Vision ihrer Beziehungen zu den südlichen Nachbarn entwickeln.

Die größte Herausforderung wird darin bestehen, die technokratische Nachbarschaftspolitik der EU zu überwinden, die alle Länder über einen Kamm schert, und durch eine Politik mit maßgeschneiderten politischen und wirtschaftlichen Strategien für jedes einzelne dieser so unterschiedlichen Länder zu ersetzen.

In der EU hat eine Debatte darüber begonnen, wie der Zugang zu Märkten und Finanzmitteln sowie die Freizügigkeit für jene Länder verbessert werden kann, die es mit politischen Reformen ernst meinen. Diese Vision könnte Maßnahmen für eine Zollunion sowie kreativere Ansätze umfassen. Dazu müssten die EU-Staaten ihre Bürger davon überzeugen, dass ihre Sicherheit verbessert wird (nach dem Vorbild der Länder des Balkans).

Vor dem Hintergrund der Rezession und der Sparmaßnahmen in den EU-Mitgliedsstaaten haben sich die politischen Entscheidungsträger bisher damit schwergetan, das politische und wirtschaftliche Kapital sowie die Kreativität aufzubringen, welche diese Ereignisse erfordern. Die Geschichte wird es aber nicht verzeihen, wenn Europa diese Herausforderungen nicht besteht.

Diese und andere kritischen Fragen werden vom 8. bis 9. Juni auf dem World Economic Forum über Europa und Zentralasien in Wien diskutiert werden, insbesondere während einer Sitzung mit dem Titel "Der Arabische Frühling: Auswirkungen und Folgen?". (Kommentar der anderen, Emma Bonino, Mark Leonard, Ana Palacio, Daniel Sachs, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 7.6.2011)