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Am Ufer des Warschauer Stadtteils Praga kollidieren die alten mit den neuen Zeiten: Gemeißelte Musterproletarier vor dem im Entstehen begriffenen EM-Fußballstadion.

Foto: AP/Alik Keplicz

Museen entstehen, und sogar als Kulturhauptstadt möchte die Metropole punkten.

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Besucher der polnischen Hauptstadt Warschau empfangen dieser Tage ebenso hektische wie betörende Aufbruchssignale: Das Stadtbild der Millionenmetropole an der Weichsel, seit den granitgrauen 1950er-Jahren vom verhassten Kulturpalast überragt, erfährt bedeutsame Veränderungen. Nicht erst seit der Zuerkennung der Fußball-EM im kommenden Jahr, die Polen im Verein mit der Ukraine ausrichtet, ist allenthalben ein geschäftiges Zimmern und Betonieren zu registrieren.

Damit nicht genug: Die Stadt Warschau, deren Antlitz wie kein anderes von den Gräueln des 20. Jahrhunderts entstellt wurde, möchte sich als modernes Musen-Areal profilieren. Während am Weichsel-Ufer von Braga ein neues Fußballstadion entsteht, werden auf der Zentrumsseite mit ehrgeiziger Geste Architekturpläne auseinandergefaltet: Zwei Museen und eine neue Philharmonie harren ihrer Errichtung. Das "Museum der polnischen Juden" soll bereits 2012 seine Pforten öffnen: Der Rohbau, nach Plänen der Finnen Rainer Mahlamäki und Ilmari Lahdelma hinter jenem Mahnmal entstanden, das einst durch Willy Brandts Kniefall Berühmtheit erlangte, wird von einem Riss unregelmäßig gespalten. Die Kerbe muss als Wundmal gelesen werden: als unaustilgbare Spur einer genozitären Vernichtungspolitik, der hunderttausende polnische Juden zum Opfer fielen.

Es gehört zu den versöhnlichen Zeichen der Erinnerungskultur, dass des Warschauer Ghetto-Aufstandes bald mit der nämlichen Inbrunst gedacht werden wird wie der Großoffensive der polnischen Heimatarmee 1944. Damals parkten die heranrückenden Sowjets ihre Panzer am Weichselstrand und sahen seelenruhig zu, wie SS-Einheiten die waffentechnisch unterlegenen polnischen Patrioten, anfangs gerade einmal 25.000 an der Zahl, im Herzen Warschaus niederrangen.

Das bereits seit 2004 geöffnete "Museum des Warschauer Aufstandes" , untergebracht in einem alten Elektrizitätswerk, versprüht den spröden Charme eines revitalisierten Festungsbaus. Seine Errichtung galt als Herzensanliegen des 2010 mit dem Flugzeug abgestürzten Präsidenten Lech Kaczyñski.

Wer es betritt - und gerade die jungen Polen stürmen die Trutzburg in Scharen -, kann die beklemmende Stimmung von anno 1944 geradezu mit den Nüstern einsaugen. Über sorgfältig ausgelegte Kopfsteine stolpert man durch einen Erlebnisparcours, zu dessen Realbeigaben der klamme Duft nach Filz ebenso zählt wie das ohrenbetäubende Grollen der Nazi-Kanonen. Kleine polnische Patrioten malen dafür in einer eigenen Bastelstube die Tschakos der Offiziere aus oder greifen beherzt nach besonders harten Untergrund-Plüschbären.

Doch die Einfühlung in das furchtbare Los der polnischen Nation weicht allmählich einer nüchternen, strikt nach vorne gerichteten Betrachtungsweise. Mit der Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft im Sommer hat sich Polen ein geradezu tollkühnes Aufbauprogramm verordnet.

Fast im Jahrestakt schießen Museumsbauten aus den ertragreichen kommunalen Böden. Das neue "Museum of Contemporary Art" in Krakau hat kaum erst seine Pforten geöffnet, da kursieren bereits Pläne für ein noch größer dimensioniertes Institut in Warschau - ausgerechnet auf dem "Vorplatz" des alten Kulturpalastes, dort also, wo der Polen ganzer Stolz, ihre blankpolierten Pkws, auf einer Brache parken.

Rittern um den Titel

Die Errichtung eines Warschauer Museums moderner Kunst gilt als beschlossen: Der Schweizer Christian Kerez hat Pläne für eine L-förmige Ausstellungslandschaft vorgelegt, mit Johanna Mytkowska ist die Direktorin längst gekürt. Was fehlt, ist der Baubeginn. Da sich Warschau aber mit Macht um den Titel einer "Kulturhauptstadt 2016" bemüht, soll der am 22. Juni zu erteilende Zuschlag alle Hemmnisse beseitigen. Kostenpunkt: 80 Millionen Euro.

Und so hängt Warschau - während sich die Betonmischmaschinen nicht nur neben dem EM-Stadion unablässig drehen - zwischen Hoffen und Bangen. Neben Polens "natürlichem" Zentrum bewerben sich vier weitere Städte um das Prädikat einer Kulturhauptstadt: Wroclaw (Breslau), das - oh Wunder - seinerseits den Bau eines Museums für moderne Kunst fix eingeplant hat. In die nationale Endausscheidung sind außerdem Lublin, Kattowice und Gdansk gerutscht: lauter Mittelstädte, die sich gute Chancen ausrechnen, anno 2016 ins kulturelle Scheinwerferlicht zu geraten.

Warschau wirbt derweil mit Wohlfühlslogans. Eine vor Sachlichkeit strotzende Stadt möchte die Schönste sein. "Kultur ist doch das beste Mittel, um auch für die Bevölkerung Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen" , erklärt Grzegorz Piatek, Sprecher der Plattform Warsaw under Construction. Das sehen die Breslauer und Kattowicer wohl genauso. (Ronald Pohl, DER STANDARD - Printausgabe, 7. Juni 2011)