Die französische Zeitschrift Le Point berichtete folgende Anekdote über Dominique Strauss-Kahn: Dieser soll, als er noch Generaldirektor des Internationalen Währungsfonds war (kurz bevor er zum weltbekannten Skandalhelden mutierte), vor dem Abflug in New York in der Business-Class im Air-France-Flugzeug sitzend, lautstark den "tollen Hintern" einer der Stewardessen bewundert haben. Si non è vero, è ben trovato, denn diese Geschichte fügt dem Bild des finsteren Don Giovanni noch eine Facette hinzu.

Die Affäre um Strauss-Kahn ist ein unbarmherziger Spiegel, in dem sich das heimliche Einverständnis der französischen Medien mit den Politikern zeigt, die unrühmliche Rückseite der in Frankreich gelobten "kulturellen Differenz", die reflexartige geschlossene Abwehrhaltung mancher Linksintellektuellen, die ihren Freund wider jede bessere Vernunft verteidigen.

Der sozialistische Abgeordnete Jean-Marie Le Guen, ein alter Weggefährte von DSK, bemüht sogar "den Geist der Aufklärung und das Beispiel der 18. -Jahrhundert-Libertins, bei denen politische und wirtschaftliche Freiheit mit der Freizügigkeit der Sitten einhergingen". Sprich, Dominique Strauss-Kahn hätte auch noch bei seinen Exzessen die allgemeingültigen Ideale der Französischen Revolution verkörpert.

Nun ist eine der von dieser Affäre aufgeworfenen Fragen: Welche Auswirkungen hat sie über die Grenzen Frankreichs hinaus? Insbesondere in einer arabisch-muslimischen Welt, die am Beginn einer langandauernden Revolutionszeit steht.

Bisher haben die Anschuldigungen gegen den Ex-IWF-Chef wegen Vergewaltigung die Gemüter der arabischen Öffentlichkeit kaum erhitzt. Bis auf einen anonymen, auf Französisch verfassten Text, der in feministischen Kreisen in Algerien die Runde macht: "Die Verschwörung der muslimischen Zimmermädchen-Lobby gegen DSK". Das Wort "Lobby" verweist auf einen tiefverwurzelten Glauben, demzufolge es eine durch ihren Einfluss auf die Finanzwelt und die bevorzugten Verbindungen Israels mit Washington auf die Weltherrschaft ausgerichtete permanente Judenverschwörung gäbe. Auch die Bestellung von Dominique Strauss-Kahn an der Spitze des Internationalen Währungsfonds 2007 war in dieser verzerrten Sichtweise dargestellt worden.

Und viele freuen sich über seinen Sturz, auch in Europa. Dazu muss man nur den in der regierungsfreundlichen ungarischen Tageszeitung Magyar Hirlap (unter dem Titel "Oralsex") erschienenen Kommentar des gehässigen Autors Zsolt Bayer lesen, der wegen seiner antisemitischen Ausfälle ebenso bekannt ist wie wegen seiner Freundschaft mit dem konservativen Premierminister Viktor Orbán: "Strauss-Kahn (und seine Organisation, der IWF) hat sich vor dem Zimmermädchen schon von der halben Welt (...) einen blasen lassen (...)." Jetzt, so Bayer, können die Ungarn triumphieren: "Noch vor knapp einem Jahr (als die Regierung Orbán dem IWF den Rücken kehrte) wollte Strauss-Kahn, sich von uns einen blasen lassen und war sehr enttäuscht, weil es nicht geklappt hat." In den Augen der ungarischen Nationalisten war DSK laut der Webseite der Opposition Pusztaranger ein Agent der "jüdischen Weltverschwörung gegen Ungarn".

Ähnliche Artikel in türkischen, ägyptischen oder tunesischen Zeitungen sucht man jedoch vergebens. Das Bild von DSK mit Handschellen zwischen zwei New Yorker Polizisten scheint die arabisch-muslimische Welt genauso bestürzt zu haben wie die französische Öffentlichkeit, wenn auch aus anderen Gründen: weil die geradezu reflexartig vorgebrachte These der "jüdischen Weltverschwörung", die alle, die in diesen Ländern gearbeitet haben, zur Genüge beobachten konnten, plötzlich nicht mehr funktioniert.

Derartige Verschwörungstheorien florierten nach den Anschlägen vom 11. September 2001. All das, schworen die Eingeweihten, war eine Vernebelungstaktik, um die amerikanische Irak-Invasion zu rechtfertigen. Eine ähnliche Erklärung wurde für die Monica-Lewinsky-Affaire Ende der 1990er-Jahre geliefert: Die attraktive, aus der jüdisch-amerikanischen Middleclass stammende Praktikantin soll im Weißen Haus auf den Präsidenten Bill Clinton angesetzt worden sein, mit dem ausschließlichen Ziel, ihm eine Falle zu stellen, um ihn wieder auf einen stärker proisraelischen Kurs zu bringen.

70 Prozent der Sympathisanten der französischen Sozialistischen Partei tendierten zwar nach der Verhaftung von DSK dazu, das Zimmermädchen aus Guinea, das gegen ihn Anzeige erstattet hatte, als Werkzeug einer Intrige anzusehen. Doch der radikale Unterschied zwischen dem, was sich im Sofitel am Times Square abgespielt hat, und der Affäre Lewinsky ist augenfällig: Hier gibt es kein blaues Kleid, das mit dem verräterischen Fleck des hitzigen Präsidenten, von einer verführten jungen Frau (wie auf dem Foto zu sehen ist, auf dem sie Bill Clinton umarmt) sorgfältig aufbewahrt wird. Hier gibt es das von der Polizei sichergestellte Stück Teppich, auf dem die in einer frommen muslimischen Familie, in einem afrikanischen Dorf aufgewachsene Nafissatou Diallo behauptet, das Sperma ihres Vergewaltigers ausgespuckt zu haben. Es gibt die Zeugenaussagen der Kollegen, die sie dort gefunden haben, zutiefst beschämt, zitternd und vor allem voller Angst, ihre Stelle zu verlieren.

Wie immer das Verfahren gegen DSK ausgeht - diese Differenz ist evident. Denn dadurch ist nicht nur die Karriere von Strauss-Kahn ruiniert, sondern auch eine notorische Schranke im Kopf vieler Muslime - die zwanghafte Vorstellung von der Allmacht der Juden. Und das zu einem wahrhaft historischen Zeitpunkt, da die arabischen Völker beginnen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.

Ein Ereignis, das gar nichts mit dem Arabischen Frühling zu tun hatte, erweitert somit den Spalt, der vor fünf Monaten in Tunesien geöffnet wurde. Eine private Katastrophe steht mit einem allgemeinen Umsturz im Zusammenhang. Diesen Sinn im Unsinn kann man zumindest den beiden Protagonisten dieses allgemeingültigen Dramas - der Banker und die Zofe - wünschen, das geradezu prädestiniert dafür scheint, von der gnadenlosen Feder Elfriede Jelineks aufgegriffen zu werden. (Kommentar der anderen, Joëlle Stolz, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 3.6.2011)