Çiğdem spielt "wohnen" auf der Straße

Foto: Yilmaz Gülüm

Viele der Gecekondus verfügen über keine adäquate Kanalisation oder Müllabfuhr.

Foto: Yilmaz Gülüm

Fremden gegenüber herrscht ein spürbares Misstrauen.

Foto: Yilmaz Gülüm

Der Geburtsort der Kinder ist für viele schon die erste Vorentscheidung für den Verlauf des weiteren Lebens.

Foto: Yilmaz Gülüm

Istanbul bietet eine grenzenlos scheinende Auswahl an Sehenswertem aller Art. Wenn man BesucherInnen nach ihren Tagen in Istanbul fragt, erzählen sie einem oft von der aufstrebenden, modernen, bunten Metropole. Und das stimmt auch. Nur ist das nicht die ganze Wahrheit dieser Stadt. Das andere Gesicht findet man jedoch in keinem Reiseführer.

"Ich möchte einmal Lehrerin werden" sagt Çiğdem*. Weil sie gerne in die Schule geht, so die 7-jährige. Ihre Schwester Cemre dagegen möchte lieber Ärztin sein. Die Chancen stehen schlecht, denn die beiden haben Pech. Sie sind in einem System geboren, das schon sehr früh die Räder der sozialen Selektion ins Rollen bringt.

"Gecekondu"

Die beiden sind die ersten, die ich hier in einem der Gecekondu-Bezirke kennen lerne. Übersetzt heißt "Gecekondu" so viel wie "nachts gelandet". So werden jene Stadtteile genannt, in denen sich spontan entstandene Siedlungen finden. Blechhütten, zerfallene Häuser, oft kein einwandfreies Kanalisationssystem. Selbiges gilt für die Müllabfuhr oder Busverbindungen. Es sind die Ghettos von Istanbul.

Als ich Çiğdem und Cemre das erste Mal gesehen habe, haben sie auf der Straße gerade "wohnen" gespielt. Es war Anfang März, ein kalter Tag. Kalt genug jedenfalls, dass es mich trotz meiner Winterjacke immer wieder gefröstelt hat. Die beiden Schwestern sind am Boden gesessen und hatten nicht mehr als ein eine dünne Jacke, ein T-Shirt und eine Hose an. Çiğdem noch nicht einmal Socken.

Zusammenhalt im Armenviertel

Einheimische raten einem davon ab in diese Viertel zu gehen, auch bei Tag. Da gäbe es schließlich nichts zu sehen. Jedenfalls nichts, was man auf eine Postkarte drucken würde. Außerdem ist es gefährlich. Drogendealer, Diebe und sonstige zwielichtige Gestalten seien dort. Armut hat eben viele Gesichter. Mir wird der Zugang dorthin durch den Amateurfotografen Emre* ermöglicht, der es sich zum Hobby gemacht hat, eben die Gesichter in den Armenvierteln abzubilden.

Unsere Aufenthalte in diesen Gegenden bleiben nie lange unbemerkt. Seien es nun Jugendliche, ältere Männer oder Frauen, alle fragen sie: "Wozu die Fotos, wozu die Fragen. Wieso interessiert ihr euch für uns?" Aus unseren Erklärungen werden schnell Rechtfertigungen. Eine ungute, manchmal bedrohlich wirkende Situation, aber Emre ist das gewohnt. Er schafft es die Gruppe zu besänftigen und noch ein paar Fotos für seine Sammlung zu machen.

Çiğdems Mutter kommt vorbei. Sie ist zornig und will dass wir gehen. Gerade hätten Männer ihren Wasserboiler abtransportiert, weil sie die umgerechnet 15 Euro teure Rechnung nicht bezahlen konnte.

Neue Wohnsiedlungen

Die Stadt Istanbul hat sich in Kooperation mit privaten Baufirmen dem Problem der "Gecekondus" angenommen. Die Häuser und Hütten werden dem Erdboden gleichgemacht und durch moderne Wohnhäuser ersetzt. Wer eine Grundstücksurkunde besitzt bekommt für die Zeit des Umbaus eine Ersatzunterkunft und hinterher eine Wohnung in der neuen Siedlung geschenkt. Eine Verbesserung. Nur viele haben so eine Grundstücksurkunde nicht. Sie packen dann ihre Sachen und ziehen woanders hin. Auch deshalb weiß man nicht genau, wie viele in diesen Vierteln in Summe leben.
Wer glaubt diese Gegenden befänden sich ausschließlich in den äußeren Teilen der Stadt, der irrt. Kleinere Siedlungen kann man auch in der Nähe von zentralen Plätzen finden, wenn man sie sucht. Konfrontiert wird man mit der Armut in Istanbul allerdings überall. Es sind die Menschen, die an den U-Bahn Treppen Taschentücher verkaufen, Plastiksäcke einsammeln oder am Straßenrand Flöte spielen.

Arme Kinder gehen mit jenen aus wohlhabenderen Familien manchmal sogar in die gleiche Gesamtschule für sieben- bis 14-Jährige. Chancengleichheit besteht jedoch praktisch nur auf dem Papier.

Soziale Selektion

Jede Gesellschaft entwickelt eigene komplexe Mechanismen um Jobs zu besetzen, die keiner machen will. Hier funktioniert das unter anderem so:
Am Ende der Gesamtschule gibt es eine zentrale Prüfung, die entscheidet in welche Oberstufe man kommt. Wer gut abschneidet, kann auf gute Schulen gehen. Dasselbe wiederholt sich auch für die Aufnahme auf die Universitäten. Nun bekommen zwar alle die gleichen Fragen, jedoch sind die Bedingungen nicht gleich.

Denn um diese Prüfungen sinnvoll zu bestehen, schicken alle Eltern, die es sich leisten können, ihre Kinder teilweise schon Jahre vorher in Nachhilfeinstitute. Wer sich die besten Nachhilfeinstitute leisten kann, darf auch mit den besten Prüfungsergebnissen rechnen. Manche Bildungsexperten vermuten, dass privat mehr für Bildung ausgegeben wird, als öffentlich - offizielle Zahlen dazu gibt es jedoch keine.

Das hieße jedenfalls, der Staat schafft zwar die Rahmenbedingungen, der Erfolg im Bildungssystem ist jedoch statistisch gesehen vor allem vom Budget und Bildungsstand der Eltern abhängig. Eine Mutter, die die Wasserrechnung nicht bezahlen kann, kann sich auch kein Nachhilfeinstitut leisten. Ein Kind das tagsüber ein paar Münzen verdienen muss, kann nicht gleich viel Zeit in die Hausübungen stecken, wie andere. Die Schule wird oft schon vorher abgebrochen, die Oberstufe gar nicht besucht. Die Jugendlichen landen dann später in schlecht bezahlten Aushilfejobs oder in der Schattenwirtschaft Istanbuls. Das gilt natürlich nicht für alle. Erfolgsgeschichten von AufsteigerInnen gibt es natürlich.

Die Ärmsten leben gar nicht so weit weg von einer wohlhabenden oberen Mittelschicht. Nur zehn Minuten zu Fuß von Çiğdems Viertel befindet sich eines dieser großen, modernen Einkaufszentren. Eine Mutter schimpft auf dem Parkplatz mit ihrem Sohn, weil der mit seiner tragbaren Spielekonsole beschäftigt ist und sie es eilig hat. Sie steigen in ihren Mercedes Benz und fahren weg. Wahrlich eine andere Welt. (Yilmaz Gülüm, 30. Mai 2011, daStandard.at)