Als Bub wollte er Abfahrer werden (Lauberhorn), später Revolutionär an Che Guevaras Seite: Jean Ziegler, Globalisierungsgegner aus Genf.

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Jean Ziegler träumt von einem Kommunismus, den es noch nie gab, und sieht sich als Kämpfer für einen Aufstand des Gewissens. Warum er grundsätzlich nur Brillen aus Ostberlin trägt, und was sein Schreibzeug mit Jean Paul Sartre zu tun hat, erzählte er Renate Graber.

STANDARD: Die Brille, die Sie da aufhaben: Die ist aus Ostdeutschland?

Ziegler: Ja, aus Ostberlin. Sie gefällt mir gut, ist sehr solide, und ich brauche das, weil ich beim Reden mit der Brille spiele, wenn ich nervös bin. Eine elegante, westliche Brille wäre längst kaputt.

STANDARD: Stichwort DDR. Sie sind immer noch Kommunist?

Ziegler: Die DDR war so kommunistisch wie ich buddhistisch bin.

STANDARD: Sie sind vom Protestanten zum Katholiken konvertiert ...

Ziegler: Und ich träume immer noch vom Kommunismus, den es aber noch nie gab. Die einzige kommunistische Revolution war die der Pariser Kommune 1871. Die dauerte zweieinhalb Monate.

STANDARD: Sie rissen 1953 nach Paris aus, lernten dort Sartre, Beauvoir und den Kommunismus kennen. Ihr Vater war streng protestantischer Gerichtspräsident; wer hat Sie mehr geprägt: er oder Sartre?

Ziegler: Beide haben mich sehr geprägt.

STANDARD: Mir ist aufgefallen, dass Sie mit grünem Filzstift schreiben. Sartre hat auch immer so einen benützt.

Ziegler: Ich verwende nur diese Stifte. Das ist wie ein Talisman: Mit grünem Stift, glaube ich, kann ich nichts Dummes schreiben.

STANDARD: Zurück zum Kommunismus. Ihre kommunistische Welt wäre gerechter?

Ziegler: Natürlich. "Von jedem nach seinen Fähigkeiten, für jeden nach seinen Bedürfnissen": So sollte die Gesellschaft sein. Tatsächlich leben wir seit der Globalisierung in dunkler Irrationalität, im Raubtierkapitalismus.

STANDARD: Davon schreiben Sie auch in Ihrem jüngsten Buch "Der Hass auf den Westen", ebenso von der "neoliberalen Wahnidee". Warum sind Sie so zornig?

Ziegler: Ich bin nicht zornig, aber einen tieferen Rückfall in die Barbarei könnte man sich ja nicht vorstellen. Da tut man, als seien Profitmaximierung und Kapitalakkumulation Naturgesetze, gegen die der Mensch nichts tun kann. Das ist Antiaufklärung. Wir sind 6,7 Milliarden Menschen ...

STANDARD: ... alle fünf Sekunden verhungert ein Kind ...

Ziegler: ... 37.000 Menschen sterben täglich an Hunger und eine Milliarde ist permanent unterernährt – auf einem Planeten, der vor Reichtum überquillt. Laut der Uno-Ernährungsorganisation FAO könnte die Weltlandwirtschaft problemlos zwölf Milliarden Menschen ernähren. Und ich ergänze: Wäre da nicht die Weltherrschaft der Konzerne. Sie ist täglicher Terror für zwei Drittel der Menschheit.

STANDARD: Sie kämpfen gegen den Kapitalismus, aber die Menschen in unseren Demokratien wählen ihre Regierungen und damit die Wirtschaftsverfassung ...

Ziegler: Ich kämpfe für die Aufklärung, für den Aufstand des Gewissens. Denn in der Demokratie gibt es keine Ohnmacht. Wir können alles tun, können morgen den Landwirtschaftsminister abberufen, der mitverantwortet, dass die Bauern der OECD-Länder mit 349 Milliarden Dollar subventioniert werden und europäische Produkte auf afrikanischen Märkten 50 Prozent billiger sind als die, die der afrikanische Bauer anbietet, der sich sein Leben lang in der prallen Sonne abrackert, stundenlang zum Markt marschiert und trotzdem nicht von seiner Arbeit existieren kann. Wir könnten die Verbrennung hunderter Millionen Tonnen Nahrungsmitteln stoppen und verbieten, dass die zu Sprit gemacht werden, wir könnten die Spekulation der Hedgefonds auf Grundnahrungsmittel verbieten, die Politik des Währungsfonds ändern. Es gibt keine Ohnmacht.

STANDARD: Aber andere Prioritäten, sonst gäbe es ja bei uns Revolution.

Ziegler: Nein, weil hier herrschen Indolenz, ein Mangel an Analyse, und die Konzerne sind so mächtig wie intransparent. Wenn Sie einen Kaiser haben, können Sie den stürzen, er hat im Gegensatz zu den Konzernen ein Gesicht, so wie Ihr Franz Joseph ...

STANDARD: Warum lieben Sie Wien? Es gab hier nicht einmal eine richtige Revolution.

Ziegler: Was Wien betrifft, bin ich total irrational. Wien ist wunderschön, eine warmherzige, gastfreundliche, lebensfrohe Stadt.

STANDARD: Salzburg mögen Sie auch? Man hat Sie jüngst als Festspiel-Redner ausgeladen.

Ziegler: Ich glaube, das geschah auf Druck der Schweizer Großbanken und Konzerne, die zu den Hauptsponsoren gehören. Salzburg ist übrigens wunderschön.

STANDARD: Sie sprachen vom Währungsfonds, kennen Dominique Strauss-Kahn. Was sagen Sie zu ihm?

Ziegler: Ich kenne ihn gut und bin überzeugt, dass er in einen Hinterhalt gelockt wurde. Er war französischer Präsidentschaftskandidat, der Währungsfonds wurde von den Amerikanern sehr bekämpft, weil er den Euro gefördert hat.

STANDARD: Klingt nach Verschwörungstheorie?

Ziegler: Nein, das ist das Banalste, was es gibt.

STANDARD: Man wird sehen was die Richter sagen.

Ziegler: Man wird nie sehen, weil die US-Justiz ist eine Lotterjustiz.

STANDARD: Harte Worte. Und wie interpretiert der Vizepräsident des beratenden Ausschusses des Uno-Menschenrechtsrats das Vorgehen der USA gegen Osama bin Laden?

Ziegler: Außergerichtliche Hinrichtungen sind völkerrechtlich verboten. Dass er unschädlich gemacht wurde, ist trotzdem eine gute Sache.

STANDARD: Wie gerecht kann ein Staat im Eindruck des Terrors agieren?

Ziegler: Gute Frage. Die größte Gefahr ist jedenfalls, wenn sich der Rechtsstaat selbst liquidiert. Dann hätte der Terrorist gewonnen.

STANDARD: Hat Amerika einen Schritt in diese Richtung getan?

Ziegler: Wissen Sie, Bin Laden war ein so großer Halunke ...

STANDARD: Sie sagen, jedes Leben sei kriminell. Im Brecht'schen Sinne, wonach "jeder Mensch schmutzige Hände hat oder keine"?

Ziegler: Ein großer Anwalt sagte so: "Erzählen Sie mir Ihr Leben, und ich bringe Sie vors Geschworenengericht." Das stimmt: Jedes Leben ist voll dunkelster Ecken.

STANDARD: Was ist die dunkelste in Ihrem Leben?

Ziegler: Sage ich nicht. Da würden wir noch Stunden reden, zudem wäre das Wasser auf die Mühlen meiner Gegner.

STANDARD: In der Schweiz gelten Sie wegen Ihrer Kritik und Bücher wie "Die Schweiz wäscht weißer" oder "Die Schweiz, das Gold und die Toten" als Nestbeschmutzer. Sie wurden oft geklagt, schulden Ihren Gegnern 6,6 Millionen Franken. Zahlen Sie zum Abstottern noch immer 60 Prozent Ihres Einkommens in einen Sperrfonds?

Ziegler: Derzeit nicht. Ich bin wegen meiner Uno-Tätigkeit immun. Aber die Schulden habe ich noch, es gehört mir nichts, und ich lebe im Haus meiner Frau.

STANDARD: Die Berliner "taz" nennt Sie einen "doktrinären Moralisten". Sie sagen, Sie seien "ein völlig unmoralischer Mensch", und schlechtes Gewissen sei "eine jämmerliche Sache". Sind Sie vielleicht ein unmoralischer Mensch mit gutem Gewissen?

Ziegler: "Ein schlechtes Gewissen ist ein lebendiger Feind", sagte Sartre. Ich will lebendiger Feind des Raubtierkapitalismus sein. Und sicher habe ich ein schlechtes Gewissen, wie jedermann. Ich bin unglaublich privilegiert in einer Welt des Schreckens. Das schafft Verantwortung, und ich will kämpfen. Und weil Sie von Moral sprachen: Ich war, um einen Bericht für die Uno zu schreiben, in Guatemala bei den Maya-Bauern, die in die kargen Berge umgesiedelt wurden und hinunter schauen auf die fruchtbare Ebene, wo US-Konzerne wie Del Monte ihre Früchte anbauen. In Guatemala sind im Vorjahr 92.000 Kinder verhungert. Ihre Mütter kümmern sich einen Dreck um Moral und das psychische Befinden des Kleinbürgers aus Genf, da ist wirklich nicht die Moral das Thema. Da geht es um Effizienz: Entweder ich helfe ihnen, oder ich helfe ihnen nicht. Moral ist eine akademische Frage, damit kann man Turnübungen im blauen Himmel machen, und Schluss.

STANDARD: Machen Sie noch Ihre täglichen Übungen am Trampolin?

Ziegler: Ja, zudem habe ich einen Maître de Sport und trainiere konsequent.

STANDARD: Sie fahren noch Ski?

Ziegler: Und wie.

STANDARD: Haben Sie heuer wieder Nestlé-Chef Peter Brabeck-Letmathe auf dem Berg getroffen?

Ziegler: Heuer nicht.

STANDARD: Sie beschreiben ihn als "anständigen Mann", obwohl er doch Chef eines der von Ihnen so kritisierten Multis ist.

Ziegler: Er ist ein zivilisierter Mensch und bei Nestlé ein Funktionsträger. Wenn man glaubt, es gehe um die Person, hat man nichts begriffen. Es geht um die strukturelle Gewalt der Konzerne.

STANDARD: Gehen Sie in Genf noch immer so gern ins Le Petit Lyonnais essen?

Ziegler: Ja. Und warum fragen Sie das jetzt?

STANDARD: Weil das Restaurant von einem Ex-Banker geführt wird.

Ziegler: Aber er ist ausgestiegen. Er hat begriffen.

STANDARD: Einer Ihrer Freunde beschrieb Sie einmal anhand eines Zitats von Karl Kraus so: "Schießt oft übers Ziel hinaus, aber selten daneben." Sie haben so viele kritische Bücher geschrieben, treffen Sie da nicht zwangsläufig öfter die Falschen?

Ziegler: Nein. Schießt man in die richtige Richtung, trifft man selten den Falschen. Ab und zu habe ich mich wohl geirrt, aber nicht im Grundsätzlichen, nicht beim kannibalischen Kapitalismus.

STANDARD: Haben Sie sich bei Gaddafi geirrt? Ihn haben Sie ja früher oft getroffen und geschätzt.

Ziegler: Er war früher ein Revolutionär und ist dann zum Psychopathen geworden.

STANDARD: Ist das, was Sie machen, Ihre Revolution?

Ziegler: Natürlich, wobei: Revolution ist ein großes Wort. Revolutionäre sterben für ihren Kampf, ich aber habe nie mein Leben riskiert.

STANDARD: Lenin sagte, "ein Revolutionär ist ein Opportunist, aber einer mit Prinzipien." Welches ist Ihr oberstes Prinzip?

Ziegler: Vernunft. In der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 war das Recht auf Erlangung von Glück festgeschrieben, das erste Menschenrecht. Damals war das reine Utopie, denn die materiellen Güter reichten nicht für alle Menschen. Aber jetzt, jetzt wäre es möglich, das materielle Glück für alle zu realisieren – hätten wir eine vernünftige und nicht kannibalische Weltordnung. Meine Motivation ist Aufklärung.

Standard: Noch zum Ski fahren: Als Kind wollten Sie wirklich Lauberhorn-Abfahrer werden?

Ziegler: Ja, ich bewundere die Sieger des Lauberhorn-Rennens. Wer das schafft, die Körperbeherrschung, Willenskraft und Intuition hat, dem gehört Bewunderung.

Standard: Sie bringen es auch so in die Nähe eines Spitzensportlers. In der Enzyklopädie Larousse folgen Sie auf Fußballer Zidane.

Ziegler: Darauf bin ich stolz.

STANDARD: Was wäre eigentlich aus Ihnen geworden, wären Sie 1964 mit Che Guevara gegangen? Sie haben ihn während der Zuckerkonferenz in Genf chauffiert und wollten mit ihm gehen. Er lehnte ab.

Ziegler: Ich wäre in einem Straßengraben in Bolivien verscharrt, seit Jahren und Jahren und Jahren.

STANDARD: Che war kühler und unnahbarer als Castro?

Ziegler: Ja, Fidel fragt immer nach dem Befinden, nach den Kindern, der Schweiz, Europa und der Sozialistischen Internationale. Ein echter Kubaner: warmherzig und temperamentvoll. Che war ein absolut kühler Mensch, unnahbar, zurückhaltend und sehr hart mit sich und den anderen. Als ich ihm sagte: "Commandante, ich will mit euch gehen", hat er mich ganz kalt abgewiesen: "Du bist hier geboren, hier musst du kämpfen."

STANDARD: Er hat den Revolutionär in Ihnen nicht ernst genommen?

Ziegler: Er hielt mich für einen ganz nutzlosen Kleinbürger. Wahrscheinlich hatte er damit auch Recht, nachträglich gesehen.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht's im Leben?

Ziegler: Der Tod ist ein totaler Skandal. Ich glaube zwar an die Auferstehung, aber man weiß nicht, was danach kommt. Leben, um zu sterben, ist unannehmbar. Daher muss man im Leben so viel Sinn schaffen, dass man dem sinnlosen Ereignis des Todes so viel Sinn wie möglich entgegen stellen kann. (Renate Graber, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 28./29.5.2011)