Im Hausarrest bereitet Dominique Strauss-Kahn seine Verteidigung vor.

***

Im Vergleich mit der kargen Zelle auf der Gefängnisinsel Rikers Island mag sich Dominique Strauss-Kahn fast wieder wie zu Hause fühlen: Nach der Entlassung aus der U-Haft wohnt er vorerst in einem eleganten Appartementhaus am Broadway im Herzen von Manhattan. Ground Zero und die Wall Street sind nur einen Steinwurf entfernt, nebenan steht die historische Trinity Church. Doch von alldem hat DSK nichts - er sitzt im Goldenen Käfig unter Hausarrest.

Mit der Freilassung ging der erste Akt eines Dramas zu Ende, wie es nur das Leben schreiben kann. Einer der mächtigsten Männer der Welt findet sich über Nacht in einem Schwerverbrecherknast, weil er sich über ein Zimmermädchen hergemacht haben soll. In Frankreich gingen die Wogen hoch, Politiker zetern über die "Lynchjustiz" der Amerikaner, gestandene Philosophen schimpfen live, das sei alles ganz "widerlich" - womit sie aber nicht erzwungenen Oralsex meinen, sondern die Handschellen für einen Verdächtigen. Ein Intellektueller rief ins Mikrofon: "Er ist doch kein Neandertaler!"

Pariser Eliten schwiegen ...

Nun, da der demissionierte Direktor des Internationalen Währungsfonds (IWF) dem Prozess entgegenblickt, verebbt in Paris die Auf- und Erregung. Zurück bleibt aber eine Wallung, Verwirrung der Gefühle - als diente sie dazu, das Wesentliche zu verdrängen. Jedes Detail aus dem New Yorker Gericht wird hundertfach kommentiert; doch die relevante Erkenntnis bleibt im Dunkeln: Dass Frankreich, zumindest aber die Pariser Eliten seit langem Bescheid wissen über Strauss-Kahns pathologische Sexattacken.

So machte sich Anfang 2010 der Komiker Stéphane Guillon in einem Radiosketch im Staatssender France-Inter darüber lustig: Vor Strauss-Kahns Interviewtermin im Studio seien starke Sicherheitsvorkehrungen für die weiblichen Angestellten getroffen worden: Alle Journalistinnen müssten lange und nüchterne Kleider tragen, die Chefredakteurin habe DSK in einer Burka zu empfangen. Toiletten und Schränke würden zugesperrt, ein Alarm sei bereit, alle Frauen zum Verlassen des Gebäudes aufzufordern, falls dem Politiker "heiß" würde. Die Franzosen amüsierten sich über die freche Satire, DSK ärgerte sich. Guillon wurde gefeuert.

... und hörten weg

Dabei war der Akt im Sofitel keineswegs der erste Akt des DSK-Dramas gewesen. Eine junge Französin namens Tristane Banon hatte in einer TV-Talkshow schon 2007 ausführlich geschildert, wie Strauss-Kahn sie zu vergewaltigen versucht hatte. Die Sendung ließ sich nicht mehr stoppen - dafür wurde der Name des Täters ausgeblendet. Die Mutter der Opfers, eine angesehene sozialistische Regionalpolitikerin, informierte Parteifreunde wie François Hollande oder Laurent Fabius. Sie hörten weg - obwohl auch die sozialistische Abgeordnete Aurélie Filippetti erklärte, sie sei von DSK so unflätig belästigt worden, dass sie darauf achte, nicht mehr mit ihm allein in einem Zimmer zu sein. Warum konnte ein Spitzenpolitiker in Paris jahrelang wüten, ohne dass seine Partei, ohne dass eine Zeitung reagierte? Auch Staatschef Nicolas Sarkozy muss "gewusst" haben; doch er nominierte Strauss-Kahn noch im Jahr des Übergriffs auf Banon als offiziellen französischen Kandidaten für den IWF-Vorsitz. Sein Fall ist letztlich gesellschaftspolitischer Natur: In Frankreich werden jährlich 75.000 Frauen vergewaltigt, ohne dass dies in den Pariser Medien größeres Echo auslöste. Die Redaktionen sind Teil der Hauptstadtelite, die aus der höfischen Gesellschaft des Ancien Régime hervorgegangen ist. Damals hatte der König gegenüber seinen Untertaninnen das "droit de cuissage", das Recht auf die Schenkel.

Das wirkt bis heute. Auf dem Sender France-Culture grinste ein bekannter Journalist diese Woche, DSK habe doch nur "eine Magd gelöchert". Während die New Yorker Polizei bei körperlichen oder sexuellen Angriffen auf Bürgerinnen kein Pardon kennt, dürften sich die Pariser Mächtigen also noch im 21. Jahrhundert ihrer Mägde bedienen. Der Parti Socialiste und seine Chefin Martine Aubry, die sich die Gleichheit der Bürger und die Rechte der Frauen auf ihre Fahnen geschrieben haben, fanden kein Wort des Mitgefühls für die schwarzafrikanische Sofitel-Angestellte, sondern stellen sich wie ein Mann hinter DSK. Einzig Feministinnen beklagten am Sonntag eine Zunahme frauenfeindlicher Äußerungen, der Ex-IWF-Chef und dessen Freunde hätten die Leiden des mutmaßlichen Opfers heruntergespielt.

Das Unglaubliche an der Affäre ist nicht, dass ein vernünftiger Politiker plötzlich zur Bestie wird, wie es - fälschlicherweise - heißt. Unglaublich ist, dass sich die höchsten Bürger einer zivilisierten Nation 200 Jahre nach der Revolution benehmen, als lebten sie am Versailler Hof. (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD, Printausgabe, 23.5.2011)