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Sonntagnacht in Helsinki: Im Brunnen der ins Trikot der "Leijonat" gehüllten Havis Amanda-Statue tanzen euphorisierte Finninnen und Finnen.

Foto: Reuters/Nukari/Lehtikuva

Zeugnis einer durchfeierten Nacht auf Helsinkis Straßen. Kiitos - Danke!

Foto: Wolfgang Gärtner

Montag, 16.00 Uhr Ortszeit in Helsinki. Nichts geht mehr: Autoschlangen und Menschentrauben schieben sich in Richtung Kauppatori.

Foto: Wolfgang Gärtner

Keine andere der großen Eishockeynationen blickt auf eine ähnlich deprimierende Geschichte zurück wie Finnland. Bis zum vergangenen Sonntag stand Suomi in acht Endspielen um WM- oder Olympiagold, ganze sieben davon gingen verloren. Die viel zitierten "tausend Seen" schienen förmlich mit den bitteren Tränen der eishockeyverrückten finnischen Bevölkerung gefüllt zu sein, die von seiner Nationalmannschaft in entscheidenden Spielen so oft enttäuscht wurde.

Emotionaler Befreiungsschlag

Der Umstand, dass die "Leijonat" in Bratislava zur Abwechslung einmal nicht als Verlierer das Eis verließ, versetzte am späten Sonntagabend dementsprechend ein ganzes Land in Jubelstimmung. Befeuert wurde die nationale Euphorie nicht zuletzt durch den Turnierverlauf: Vor seiner Unabhängigkeit im Jahr 1917 war das heute am dünnsten besiedelte Land der Europäischen Union für fast 800 Jahre ein Spielball der Interessen der übermächtigen Nachbarn Russland und Schweden, also jener Länder, gegen die Finnland bei der diesjährigen Weltmeisterschaft im Halbfinale und im Endspiel die Oberhand behielt. Für Suomis geplagte Eishockey-Seele ein emotionaler Befreiungsschlag, wie er intensiver nicht vorstellbar erscheint.

Alte Helden

Schweden war auch 1995 der Gegner, als Finnland die einzige Eishockey-Goldmedaille seiner Geschichte holte, sich ausgerechnet in Stockholm zum Weltmeister krönte. Die damalige Mannschaft rund um Saku Koivu genießt bis heute Heldenstatus - vielleicht sogar in zu großem Ausmaß: Zu lange schien Suomi der "goldenen Generation" von 1995 anzuhängen, in jedem WM- und Olympiakader in den 16 Jahren seitdem fanden sich Mitglieder des einstigen Teams wieder. Das änderte sich erst 2011, denn ausgerechnet die von Headcoach Jukka Jalonen und seinen Assistenten Pasi Nurminen und Petri Matikainen (als Spieler die tragische Figur der österreichischen Finalserie 1999, später Coach von Bernd Brückler bei Espoo) zusammengestellte Mannschaft war die erste ohne einen Spieler aus dem damaligen WM-Roster.

Der Star aus der Reporterkabine

Während die eishockeyspielenden Sterne des Jahres 1995 also langsam aber sicher verglühen, strahlt jener von Antero Mertaranta heller denn je. Der legendäre TV-Kommentator mit der verrauchten, sich aber immer wieder ekstatisch überschlagenden Stimme begleitete das vor dem Fernsehapparat versammelte Finnland durch das Finale von Stockholm - und 16 Jahre später auch durch das Endspiel von Bratislava: 2,435 Millionen Finnen - und damit knapp die Hälfte der gesamten Bevölkerung - hingen am Sonntag an den Lippen des Kult-Kommentators, dem seine nicht seltenen Versprecher ob der emotionalen und teilweise ins Lyrische abdriftenden Berichterstattung nur allzu gerne verziehen werden. Als er mit gebrochener Stimme seinen Schlusssatz ("Aus dem Nirgendwo, den Tiefen des Sumpfes, sind wir zurückgekommen.") in die nordische Heimat schickte, war dies der Startschuss für zigtausende Finnen, sich auf den Plätzen der großen Städte wie auch der kleinen Dörfer zu versammeln, um den neuen Weltmeister zu feiern.

Ein zweites Vappu

Die Bilder der Sonntagnacht in Helsinkis Innenstadt erinnerten an die jährlichen Vappu-Feierlichkeiten am 1.Mai, wenn Finnlands ehemalige, aktuelle und zukünftige Studenten das Zentrum der Hauptstadt belagern. Während die berühmte Havis Amanda-Statue am Kauppatori alljährlich an Vappu geputzt und mit einer Studierendenmütze ("Ylioppilaslakki") dekoriert wird, war es diesmal ein Trikot der "Leijonat", das ihr übergestreift wurde. Rund um das Meerjungfrauen-Denkmal machten Zigtausende die Nacht zum Tag und den darauf folgenden Montag blau. Gut 18 Stunden nach der Schlusssirene im WM-Endspiel hat sich der Platz noch immer nicht geleert, ganz im Gegenteil: Aus allen Himmelsrichtungen strömen in finnische Flaggen gehüllte Menschen auf die große Pflastersteinfläche am Südhafen, wo ab 20 Uhr Ortszeit das weltmeisterliche Team nach einem Autokorso durch Helsinki die Bühne betreten und von mindestens 60.000 Fans gefeiert werden wird.

Der Blick der Meerjungfrau

Über dieser Szenerie am Kauppatori wird - wie seit 1908 - die in Bronze gegossene Havis Amanda wachen. Die Legende besagt, die umgangssprachlich "Manta" genannte Meerjungfrau wäre an dieser Stelle der Ostsee entstiegen, der Vergleich mit TV-Stimme Mertarantas "aus den Tiefen des Sumpfes zurückkommender" Eishockey-Mannschaft liegt nahe. Die Statue der Havis Amanda blickt über ihre Schulter ein letztes Mal zurück ins Meer. Die finnische Eishockeynation blickt dieser Tage ein letztes Mal zurück auf den WM-Titel 1995 und erfreut sich am endlich errungenen zweiten Gold, jenem von 2011. Auch eine Art Befreiungsschlag. (Hannes Biedermann, derStandard.at; 16.Mai 2011)