"Michael", der Film des Österreichers Markus Schleinzer, der es in Cannes sensationellerweise in den Wettbewerb geschafft hat, spaltete Kritik und Publikum.

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Die Programmierung von Festivals ist eine Schnittmenge von Zufällen. Da fragt man sich, welche andere Gründe es hat, dass so viele Filme in Cannes um das Thema Familie und Kind kreisen. Auf Lynne Ramseys Mutter-Sohn-Drama We Need To Talk About Kevin folgte Polisse der Französin Maiwenn, ein Film, der semidokumentarisch die Arbeit einer Polizeieinheit mitverfolgt, die auf Kindesmissbrauch spezialisiert ist. Trotz kraftvoller Konfrontationen zwischen Kriminellen und Beamten am Arbeitsplatz stören hier erzählerische Verkürzungen, die eher der Dramaturgie einer Fernsehserie entsprechen.

Mit dem Debüt des Österreichers Markus Schleinzer, das es sensationellerweise in den Wettbewerb geschafft hat, folgte dann jener Film, der schon im Vorfeld Sprengkraft versprach - die Fallgeschichte eines pädophilen Mannes, der einen zehnjährigen Buben in seinem Haus gefangenhält. Michael spaltete dann Kritik wie Publikum, die Bravo- und Buhrufe hielten sich die Waage. Wie kein anderer Film in Cannes fordert er zu Reaktionen heraus: Nicht deshalb, weil er sich eine fragwürdigen Darstellung erlauben würde, sondern weil er den Zuschauer in ein Spannungsfeld führt, in dem man sich gegenüber der Logik eines Täters verhalten muss.

Nüchtern protokolliert Schleinzer den kleinbürgerlichen Alltag Michaels, der sich von dem vieler anderer wenig unterscheidet. Das macht das Unbehagen keineswegs kleiner, ist es doch erst die Nähe zum gewöhnlichen Leben, die verstört. Wolfgang, der Junge hinter der verriegelten Kellertür, an dem sich der Mann vergeht, mit dem er aber auch gemeinsam isst, Ausflüge unternimmt, sogar Weihnachten feiert, ist eben nicht nur ein verstecktes Geheimnis, sondern der integrale Teil dieser Welt.

Die Logistik, die es braucht, um dieses abgeschlossene Universum nach außen abzudichten und nach innen aufrechtzuerhalten, bildet den erzählerischen Faden des Films, der eine beklemmende Suspense generiert. Schon eine gewöhnliche Erkrankung des Kindes schafft eine Krise, die alles in Frage stellen kann. Oder ein Unfall Michaels lässt einen um das Wohl des Jungen bangen.

Es liegt nicht zuletzt an der mutigen Darstellung Michael Fuiths, der unverbindlich freundlich und unscheinbar, dann wieder eiskalt und unheimlich wirken kann, dass es ein so greifbares Bild für die Anstrengung dieses Unterfangens gibt. In einigen der besten Momenten spitzt sie der Film mit Hang zum Aberwitz zu: Einmal ist es sogar das Kind, das seinem Übeltäter mit den Folgen der Wirtschaftskrise Angst einflößen will.

Schleinzer war bisher vor allem mit dem Casting von Filmen betraut - für Michael Hanekes Das weiße Band hat er die Auswahl der Kinder vorgenommen. Mit Michael stellt er sich in die Tradition eines österreichischen Milieurealismus, der soziale Defekte mit unerbittlicher Strenge aufzeigt. Es gibt hier keine übergeordnete moralische Autorität, was wohl für die größten Irritationen sorgen wird. Markus Schleinzer beweist hier eine Genauigkeit in Zugang und Umsetzung, die man gerade bei so gewichtigen Themen eher selten sieht.

Der Bub will ausbüchsen

Auch das Brüderpaar Jean-Pierre und Luc Dardenne setzt sich in Le gamin au vélo ("The Kid With a Bike") mit einem Kind auseinander, dem zwölfjährigen Cyril, der von seinem Vater in ein Heim gegeben wird, da dieser sich außer Stande sieht, für ihn zu sorgen. Der Bub will dies nicht wahrhaben und setzt alles daran, auszubüchsen. Wie schon in anderen Filmen der Dardennes ist die Kamera ganz auf die Körperlichkeit seines Helden eingestellt. Flink, auffassungsschnell und temperamentvoll wie Cyril ist die Gangart der Erzählung, die den Jungen auf seinem Fahrrad durch Erfahrungen schickt, an denen er sein Vertrauen gegenüber anderen Menschen ständig neu justieren muss.

Einer Friseurin namens Samantha, die vom französischen Star Cécile de France verkörpert wird, kommt die bedeutendste Rolle zu - sie erklärt sich bereit, für Cyril über Wochenenden zu sorgen. Ihre Motivation lassen die Dardennes wohl bewusst im Dunkeln: ein Akt der Gnade, vielleicht.

So schön es ist, die moralischen Lektionen Cyrils entlang der Spur seines Fahrrades zu arrangieren - man wird hier nicht das Gefühl los, dass die Fallhöhe dieser Geschichte diesmal ein wenig geringer ist. Auch das ist eine Festivalerscheinung: Von doppelten Cannes-Siegern erwartet man sich wohl mittlerweile einfach zu viel.  (Dominik Kamalzadeh aus Cannes/ DER STANDARD, Printausgabe, 16.5.2011)