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Zeitenwende in Deutschland: Ausgerechnet im konservativen Südwesten ist nach 58 Jahren CDU-Vorherrschaft ein Grünen-Politiker Ministerpräsident geworden.
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Als Winfried Kretschmann am Donnerstag - noch als einfacher grüner Abgeordneter - den Landtag von Baden-Württemberg betritt, ist ihm die Anspannung anzumerken. Die gesamte Fraktion ist nervös, schließlich steht gleich eine Premiere an: Kretschmann soll zum ersten grünen Ministerpräsidenten von Deutschland gewählt werden.

Die grün-rote Mehrheit ist knapp, man hat nur zwei Stimmen Überhang. Und nicht alle in der SPD haben es schon verdaut, dass es in "Ba-Wü" künftig nicht mehr Rot-Grün, sondern Grün-Rot heißen muss. Dass im Ländle nun die Köche Kellner sind - und umgekehrt. Doch um 11.43 Uhr bricht Riesenjubel aus, kaum dass Landtagspräsident Willi Stächele (CDU) ausgesprochen hat: "Abgegeben wurden 138 Stimmen, auf den Abgeordneten Kretschmann entfielen 73 Stimmen."

73 Stimmen - das sind zwei mehr, als das grün-rote Lager hat. Auch zwei Abgeordnete aus CDU und/oder FDP haben für "Kretsch" gestimmt. Der verspricht wenig später bei der Vereidigung, dem Land zu dienen, und fügt hinzu: "So wahr mir Gott helfe."

Diese fünf Worte machen noch einmal deutlich, warum es überhaupt so weit kommen konnte, dass die CDU nach 58 Jahren die Macht an die Grünen abgeben musste. Der 62-jährige Kretschmann ist kein "linker Revoluzzer", sondern ein wertkonservativer Politiker. Er geht zur Kirche, ist Mitglied im Schützenverein, war bei der Wahl am 27. März also auch für viele Konservative wählbar. "Meine Aufgabe ist es nicht, zu polarisieren, sondern zusammenzuführen", sagt er.

Vor 31 Jahren war er bereits bei einer anderen grünen Premiere in Baden-Württemberg dabei: 1980 wurde in Karlsruhe die Partei gegründet. Als Joschka Fischer 1985 Umweltminister der ersten rot-grünen Koalition in Hessen wird, arbeitet Kretschmann als Referent für ihn in Wiesbaden.

Am Nachmittag gibt Kretschmann dann in der Staatskanzlei einen Empfang. Wieder ist die unbändige Freude der Grünen zu beobachten. In der SPD freut man sich auch, allerdings etwas verhaltener. Klar, die Sozialdemokraten sehen es als Erfolg an, dass sie regieren dürfen. Aber es trifft manche schon hart, dass die Grünen den Ministerpräsident stellen - auch wenn die SPD Schlüsselressorts wie Wirtschaft, Finanzen und Inneres besetzt.

Viel ist bei der SPD die Rede davon, dass man "auf Augenhöhe" koaliere. Und SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles verkündet an diesem grünen Freudentag - etwas verschwurbelt - in Berlin: "Dass die SPD auf Bundesebene nicht die Nase vorn hat vor den Grünen, das halte ich überhaupt nicht für eine realistische Option."

Doch in Umfragen für die Bundesrepublik und für Berlin, wo am 18. September gewählt wird, liegen die Grünen immer wieder vor den Sozialdemokraten. Sie profitieren von der FDP-Schwäche und von der Debatte um den Atomausstieg. Ihnen kommt auch zugute, dass sie in den meisten Bundesländern in Opposition sind und deshalb munter Forderungen aufstellen können.

Die Nagelprobe kommt spätestens im Oktober. Da stimmt das Volk im Ländle über den Weiterbau des umstrittenen Bahnhofs Stuttgart 21 ab. Spricht sich nur eine Minderheit gegen einen Baustopp aus, haben die grünen Gegner des Projekts ein Problem. Winfried Hermann, neuer grüner Verkehrsminister in Baden-Württemberg, baut schon vor: Er würde seine Zuständigkeit für S 21 dann eben an ein SPD-Ressort abgeben. (Birgit Baumann, STANDARD-Printausgabe, 13.5.2011)