Jugendliche eignen sich kaum öffentliche Räume an, die ihnen nicht ohnehin zugestanden werden. Zu tun hat das mit einem mangelnden Selbstverständnis der Jungen als politischer Faktor.

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Willkommen am Tisch der Lebensperspektiven. Vor uns liegt ein Scheck über fünf Millionen Euro. Was willst du damit machen? Ohne lange zu überlegen, steht für den Jüngsten in der Runde fest: ein Altersheim bauen. Sein ein paar Jahre älterer Sitznachbar bliebe auch nicht lange auf den Millionen sitzen: "Ich würde einen Bohrer bauen, mit dem man weiter in die Erde vordringen kann, als man es je geschafft hat, um herauszufinden, was die Welt zusammenhält."

Und es sind kaum geringere Fragen, mit denen sich das Forschungsprojekt beschäftigt, im Rahmen dessen diese Ideen formuliert werden: Wie funktioniert die Welt da draußen? Wie gestaltet sich ein Zusammenleben zwischen kultureller Vielfalt und sozialen Ungleichheiten? Und vor allem: Wie wird es von Kindern und Jugendlichen erlebt?

KMS und Gymnasium

Das vom Wissenschaftsministerium finanzierte Sparkling- Science-Projekt "Vielfalt der Kulturen - ungleiche Stadt" geht diesen Fragen nach. Als große Herausforderung des Projekts sieht der Projektkoordinator Gerald Faschingeder, "unterschiedliche Sprachen, Denkweisen und Institutionen" zusammenzuführen. Schließlich sind an dem Projekt nicht nur zwei grundverschiedene Wiener Schulen - die Kooperative Mittelschule (KMS) Schopenhauerstraße und das Bundesgymnasium Klostergasse -, sondern auch die Schule Aleksa Santiæ in der serbischen Kleinstadt Seèanj und das Gymnasium Istanbul Lisesi sowie die Wirtschaftsuniversität Wien und das Paulo-Freire-Zentrum für transdisziplinäre Entwicklungsforschung und dialogische Bildung beteiligt.

Die Jugendlichen stehen dabei nicht nur im Mittelpunkt der Forschung, sondern die Schüler durften im Gegensatz zum vorangegangenen Projekt "Hauptschule trifft Hochschule" nun selbst Forschungsfragen einbringen - mit dem Effekt "dass sie diesmal viel besser sind", wie ein beteiligter Gymnasiast feststellt.

Mit interaktiven Spielen wie dem Fünf-Millionen-Ideen-Scheck versucht das Forscherteam die Jugendlichen in die wissenschaftliche Arbeit einzubinden. "Die Methoden sind ein Experiment", erklärt Sarah Habersack, Forschungsassistentin an der WU.

Der Fachbegriff dafür lautet "Transdisziplinarität" - dahinter verbergen sich Tänze und Theaterspiele ebenso wie qualitative Interviews. "Jeder kann teilnehmen und jeder hat das Recht auf Teilnahme", beschreibt Habersack die Philosophie dahinter. Daneben lernen Schüler aber auch Techniken zur Forschungsplanung und Interviewauswertung.

Habersack hat, bevor sie in das Projekt eingestiegen ist, ihre Diplomarbeit in Internationaler Entwicklung anhand von Feldforschung an Schulen in der indischen Vier-Millionen-Einwohner-Stadt Pune geschrieben. Unter diesem Blickwinkel dehnt sie ihre Forschungsarbeit nun auf Schulen in Mitteleuropa aus - und kann dabei Unterschiede festmachen zwischen einem europäischen und einem asiatischen Habitus Jugendlicher, sich öffentlichen Raum anzueignen. Während in Indien ein allgegenwärtiger "public gaze" den Jugendlichen das Gefühl gibt, unter ständiger Beobachtung zu stehen, sei in etwa in Wien eher die liberale Perspektive des "anything goes" präsent.

Vor diesem Hintergrund ist ein überraschender Aspekt eines vorläufigen Zwischenergebnisses: Raumaneignung von Jugendlichen findet kaum statt, weder in Asien noch in Europa. "Sie nehmen wenige Räume in Anspruch, die ihnen nicht ohnehin schon zur Verfügung stehen", sagt Habersack. Was in Indien allerdings eine Rolle spiele, sei die Besetzung von Territorien in der Nacht.

Unpolitisierte Jugend

Natürlich gehen auch die Wiener Jugendlichen "am Abend was trinken" - nichts zu tun habe das aber mit einem Selbstverständnis der Jugendlichen als ein politisch-gesellschaftlicher Faktor, meint Habersack. Wenn es um die Eroberung öffentlicher Räume gehe, wären die Jugendlichen eher unpolitisiert. Ein zentrales Forschungsziel des zweijährigen Projekts ist es denn auch, zu erforschen, was nicht nur räumliche, sondern auch soziale Alltagsstrategien von Mädchen und Burschen in multikulturell geprägten Städten sind. Heruntergebrochen auf die Forschungsfährten der Schüler, geht man etwa den Fragen "Wie fühlst du dich als Mädchen oder Bursche in der Schule?" nach, oder: "Wie nehmen Jugendliche den Alltag in Patchworkfamilien wahr?"

Der Istanbuler Gymnasiast Ozan Cengiz etwa hat sich mit der Binnenmigration in der Türkei beschäftigt und dabei herausgefunden, dass viele junge Männer um die 20 aus Anatolien nach Istanbul migrieren - wobei bei den Ärmeren der Kontakt zur Heimatstadt eher abreißt als bei den Reicheren, weil nur diese sich leisten können, die Heimat zu besuchen. Das Projekt läuft noch bis Jahresende. (Tanja Traxler/DER STANDARD, Printausgabe, 11.05.2011)