Osama Bin Ladens Tod scheint im Orient die großen politischen Weichenstellungen und die dynamische Entwicklung dieser Tage nicht wirklich zu beeinflussen. Von einem Ende der Gewalt und einem Durchbruch zum Frieden in Afghanistan oder im Nahen Osten kann freilich keine Rede sein. Der verheerende Anschlag der noch aktiven Terrorzellen Al-Kaidas in Marrakesch erinnert daran, dass die Terrorbekämpfung weiterhin Vorrang genießen muss. Auch die Tatsache, dass der Ministerpräsident der in Gaza regierenden Hamas, Ismail Hanija, für die Seele des Kaida-Chefs Bin Laden, des "Märtyrers" und "heiligen Kämpfers" , beten wollte, liefert sozusagen auf einem silbernen Tablett die Argumente für den israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu gegen das am 4. Mai unterzeichnete Versöhnungsabkommen zwischen Hamas und der von Präsident Mahmoud Abbas vertretenen gemäßigten Fatah-Organisation. Was kann man von einer von den Hamas-Führern propagierten "gemeinsamen politischen Vision für einen palästinensischen Staat" halten, solange die Hamas, die hunderte Raketen auf Israel gefeuert und dutzende Selbstmordattentäter gegen die Israelis eingesetzt hat, den Gewaltverzicht und die Anerkennung des Existenzrechtes Israels ablehnt?

Man darf auch die Tatsache nicht vergessen, dass dieselben palästinensischen Politiker im Februar 2007 mit ähnlicher Propaganda ein Versöhnungsabkommen unterschrieben hatten, aber nur vier Monate später ihre bewaffneten Einheiten in einen mörderischen, blutigen Konflikt mit vielen Opfern auf beiden Seiten verwickelt wurden. Trotzdem haben die wichtigsten Regierungen und die meisten Kommentatoren des Westens jetzt die Zwei-Staaten-Lösung und die Versöhnung zwischen Hamas und Fatah ausdrücklich begrüßt.

Bezüglich der von Abbas bei den Gesprächen mit Bundeskanzlerin Merkel in Berlin wieder bekräftigten Ausrufung eines palästinensischen Staates scheiden sich die Geister. Während der französische Staatschef Sarkozy auch die einseitige Anerkennung dieses Staates nicht mehr ausgeschlossen hat, soll Merkel bereits im April in Berlin Netanjahu versprochen haben, einen palästinensischen Staat gegen den Willen Israels nicht anzuerkennen.

Der Druck auf Israel wird allerdings massiv zunehmen, nicht zuletzt wegen des jüngsten Beschlusses, die vereinbarten Steuern und Zölle der von der Fatah kontrollierten Autonomiebehörde im Westjordanland wegen ihrer Versöhnung mit der Hamas nicht zu überweisen. Auch die angesehene israelische Zeitung Haaretz plädiert, ebenso wie ein von der Zeitung zitierter Geheimbericht des israelischen Außenministeriums, für eine offene und kreative Diplomatie, um die durch die Fatah-Hamas-Versöhnung gebotene "strategische Chance" auszunützen.

Leider ist gerade der Chef der israelischen Diplomatie, Außenminister Lieberman, ein radikaler Scharfmacher, während Netanjahu alle Türen zuschlagen möchte, um den Zerfall seiner wackligen Koalition durch innere Widersprüche zu verhindern. Einseitige Repressalien wie die Blockade des Gazastreifens und die Isolierung von Hamas sind kontraproduktiv und schaden nur den gemäßigten Kräften im Palästinakonflikt. (Paul Lendvai/DER STANDARD, Pritnausgabe, 10.5.2011)