Eine Million Menschen wurden am Taksim-Platz erwartet.

Foto: Yilmaz Gülüm

Istanbul zeigt sich am 1. Mai von seiner buntesten Seite.

Foto: Yilmaz Gülüm

Familien sind mit kleinen Kindern gekommen.

Foto: Yilmaz Gülüm

Immer wieder wurde auch getanzt.

Foto: Yilmaz Gülüm

Beim Spielen kurdischer Lieder waren einige sichtlich gerührt.

Foto: Yilmaz Gülüm

Es ist Sonntagmorgen. Als ich das Haus verlasse traue ich meinen Augen kaum. Kein einziges Auto auf der Straße, nicht einmal Menschen. Und das in Istanbul. Es ist der 1. Mai, lange dauert es nicht bis ich auf die Menschenmassen stoße. Von vier verschiedenen Richtungen führen Gewerkschaften verschiedene Gruppen zum großen Taksim Platz. Die Polizei hat deswegen alle umliegenden Straßen gesperrt und den öffentlichen Verkehr lahmgelegt.

Viel wurde über diesen ersten Mai im Vorfeld gesprochen. Immer wieder merkte man, dass eine gewisse Sorge oder gar Angst, was an diesem Tag wohl passieren wird, mitschwingt. Von der Uni erreichte mich eine warnende E-Mail: "We strongly advise you not to go to Taksim. Some unexpected situations may arise between Police and demonstrators."

In einem Studentenwohnheim hat man sogar dazu geraten gar nicht außer Haus zu gehen, oder die Stadt für den ersten Mai ganz zu verlassen.

Fußball bis Feminismus

Bis auf kleinere Ausnahmen verlief in Istanbul gestern allerdings alles friedlich, feierlich. Die Stadt zeigt sich von ihrer buntesten Seite, denn heute sind sie alle auf der Straße. Da gibt es die MarxistInnen, LeninistInnen, KommunistInnen, SozialistInnen, KemalistInnen, FeministInnen, AnarchistInnen ebenso wie Fußballfans, KöchInnen, SchauspielerInnen, PensionistInnen….

Es gibt vieles, wofür es sich für diese Menschen lohnt, auf die Straßen zu gehen. Einigen geht es um Frauenrechte, anderen um eine Lösung der Konflikte mit den KurdInnen. Die Arbeitnehmerrechte waren freilich auch eines der Hauptthemen. Zwölf bis 13 Arbeitsstunden pro Tag, sechs Tage die Woche, sind keine Seltenheit. Und das bei 15 bis 26 Urlaubstagen im Jahr. Natürlich nur, wenn man angemeldet ist.

Über 38.000 PolizistInnen sind im Einsatz,  erkennen kann man sie nicht. Vorher hieß es, dass kein uniformierter Polizist den Taksim-Platz betreten wird. Nur einige zivile Polizisten sind unter den DemonstrantInnen. Von den Dächern der umliegenden Gebäude und mit Helikoptern wird der Platz überwacht. Wie viele Menschen tatsächlich hier sind, ist unklar. Erwartet wurden eine Million. Laut Medienberichten, wurde das auch erreicht, offiziell gibt es dazu (noch) keine Stellungnahme.

Massenpanik am 1. Mai 1977

Wieso aber eigentlich diese Furcht? Um das zu erklären, muss man ein wenig in die Vergangenheit schauen.

1977 kam es bei den Feierlichkeiten am ersten Mai auf eben diesem Taksim-Platz zu einem blutigen Vorfall. Die Zahlen und Fakten variieren je nach Quelle. Fest steht, dass von zwei Seiten auf Hunderttausende DemonstrantInnen geschossen wurde. Es kam zu einer Massenpanik und über 30 Menschen verloren ihr Leben. Hunderte wurden verletzt. Die Täter und Hintermänner wurden nie gefasst. Über die Motive herrscht Uneinigkeit.

1978 versammelten sich die Menschen wieder am Taksim Platz. Es sollte das letzte Mal sein, bis ins Jahr 2010. In der Zeit dazwischen wurde das in Folge des Militärputschs 1980 verboten. Da die DemonstrantInnen den Platz jedoch für sich in Anspruch nehmen wollten, kam es am 1. Mai in den letzten Jahren immer wieder zu Ausschreitungen.

Armut und Arbeitslosigkeit

Der Gewerkschaftsführer und Oppositionspolitiker Süleyman Çelebi sagt, dass die zwei größten Probleme im Land Armut und Arbeitslosigkeit sind. 11,9 Prozent beträgt die Arbeitslosenquote. Bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen (15 bis 24) sind es gar 22 Prozent. Punkto Armut sprach der Chef der republikanischen Volkspartei (CHP) Kemal Kılıçdaroğlu letztens von über zwölf Millionen Menschen in der Türkei, die arm seien.

Ansonsten gäbe es da noch die Sorge um die Pressefreiheit, den Ausschluss von kurdischen Kandidaten für die Wahl, den Umgang mit Minderheiten, den Vorwurf die Zukunftsweisende Prüfung zur Aufnahme in die Universitäten sei manipuliert worden etc.

Wie gesagt, vieles weswegen man auf die Straßen gehen kann. Und dennoch war der Taksim-Platz, so gefüllt er auch gewesen war, friedlich. Familien waren mit ihren Kleinkindern und Babys unterwegs, immer wieder wurde getanzt. Einige Lieder auf der Hauptbühne wurden auf Kurdisch oder Armenisch gesungen, was einige sichtlich zu Tränen rührte. (Yilmaz Gülüm, 2. Mai 2011, daStandard.at)