Der Autor Nir Baram bringt Sicht-weisen junger Israelis in seinen Büchern auf den Punkt.

Foto: Nir Baram c/o Schöffling & Co.

Stefan Gmünder sprach mit ihm über Realismus, Propaganda und politisches Verantwortungsgefühl.

STANDARD: Ihr Roman "Purple Love Story" spielt zur Zeit der Ermordung Yitzhak Rabins, die 1995 den Friedensprozess im Nahen Osten abrupt stoppte. Die Perspektive - auch die politische der jungen Leute - ist im Buch deprimierend. Kann man von einer verlorenen Generation sprechen?

Baram: Ich habe das Buch als Zwanzigjähriger geschrieben. Beeinflusst hat mich dabei nicht nur der Tod Rabins, sondern auch die überraschende Wahlniederlage der Arbeiterpartei 1996. Meine damalige Sichtweise war geprägt vom Schlagwort "Friedensbewegung" . Diese hat sich aber nie mit der wirklichen Ursache des Konflikts auseinandergesetzt, die nicht 1967, sondern 1948, also im ersten arabisch-israelischen Krieg liegt, über dessen Folgen die israelische Linke bis heute ungern redet. In diesem Sinne ist meine Generation, denke ich, zu versöhnlich und zu widerwillig, all jene Fragen zu stellen, die unsere Väter, die emotional und politisch in den Krieg 1948 involviert waren, nicht stellen konnten. Meine Generation hat diese Fragen geerbt.

STANDARD: Sie sagten einmal, wer in Israel lebe, lebe nicht einfach in einem Staat, sondern in einem Zustand.

Baram: Ich erinnere mich nicht, dies gesagt zu haben. Aber wissen Sie, man kann nicht jeden einzelnen Satz, den man einmal von sich gab, rechtfertigen. Ich denke, dass wir Israelis dazu neigen, unsere einzigartige Position in der Geschichte zu glorifizieren - dass Menschen nach 2000 Jahren zurück in ihr Land kommen -, so als könnten wir nichts aus anderen Fällen der Besetzung und über Zivilrechte lernen. Indem ich "wir" sage, will ich eines klarstellen: Selbst wenn ich gewisse Sichtweisen nicht teile und sie bekämpfe, fühle ich mich doch für alles mitverantwortlich, was in Israel passiert. Es geht darum, Verantwortung selbst dann zu zeigen, wenn man nicht unterschreibt, was die Regierung macht.

STANDARD: In einem existenziellen Sinn betrifft Politik in Israel das ganze Leben. Sie haben sich in Ihren Büchern und Kolumnen immer wieder kritisch mit der israelischen Politik auseinandergesetzt. Was läuft falsch?

Baram: Wir haben nie wirklich versucht, Israel zu "normalisieren" . Wir sind durch den Holocaust und den Albtraum unserer Väter gelähmt, dass Israel von der Landkarte verschwinden könnte. Wir sind von Angst vergiftet. Die israelische Propaganda basiert auf der Vorstellung, dass Menschen, wenn man ihnen Angst wie eine Medizin in die Kehlen träufelt, ihre Fähigkeit zur Rebellion verlieren. Leider scheint dies nicht nur in Israel wunderbar zu funktionieren.

STANDARD: Vertraut Israel bei der Lösung seiner Probleme zu stark auf die Armee?

Baram: Ich denke an die berühmte Warnung Präsident Eisenhowers bei seiner Abschiedsrede: Er warnte die Menschen vor der grenzenlosen Macht des "militärisch-industriellen Komplexes" . In Israel ist es noch schlimmer, weil unsere Medien im Gegensatz zu jenen in den USA zensuriert sind. Sie sind schwach, liefern der Angstpropaganda Vorschub und sehen die Welt entsprechend der militärischen Sichtweise. Das ist der Grund, warum in jedem Krieg die Medien zuerst jubeln, zur Kriegserklärung drängen - und Kritik als Verrat bezeichnen. Nach dem Krieg, wenn die Toten gezählt werden, dann, und nur dann, beginnen die Medien Fragen zu stellen. Aber nie rechtzeitig, nie, wenn man noch Leben retten könnte.

STANDARD: In Ihrem Roman "Der Wiederträumer" wütet ein gewaltiger Sturm über Tel Aviv. Ein apokalyptisches Szenario?

Baram: In Israel leben wir unter der Annahme, dass ein "apokalyptisches Szenario" sehr real ist. Ich versuchte in Der Wiederträumer diese Paranoia aufzuzeigen und frage, wer davon profitiert. Die israelische Literatur ist stark dem Realismus verpflichtet. Viele israelische Autoren glauben, Realismus sei der einzige Weg, Wirklichkeit zu beschreiben. Ich halte das für eine sehr enge Sichtweise, es gibt ganz andere Möglichkeiten zu schreiben - Salman Rushdie ist ein Romancier, den ich schätze, und er zeigt, wie sich Reales mit Fantasie verschmelzen lässt. In meinem Roman verwendete ich fantastische Elemente, um unsere tiefsten Ängste auszuleuchten.

STANDARD: Joel kann im Buch die Träume anderer Menschen lesen. Es ist aber auch ein Roman über den israelischen Alltag. Es scheint sich um eine Gesellschaft in Auflösung zu handeln.

Baram: Ich versuche den Leser in den Albtraum zu ziehen, der das künftige Tel Aviv sein könnte. Und das Wetter, das die Stadt verheert, kann als Symbol der Erfahrung des Einzelnen in einer Großstadt gelesen werden. Die Entfremdung, um die es im Buch geht, hat mit der Angst vor Technologie oder Fortschritt zu tun. Sie resultiert vor allem aus den Übergriffen der Menschen aufeinander. Es geht um eine Apokalypse der inneren Erfahrung.

STANDARD: In Ihrem Roman "Good People" , der 2012 auf Englisch erscheinen wird, thematisieren Sie, wie Rationalisten radikale Systeme am Leben erhalten. Albert Speer soll eine Rolle spielen.

Baram: Speer spielt als Individuum keine Rolle, die Speers dieser Welt aber schon: Der Roman ist eine Art Laboratorium, das das Verhalten von Durchschnittsmenschen wie Speer prüft, die im Zweiten Weltkrieg zu Schreibtischtätern wurden. Der Roman wirft die Frage auf, bis zu welchem Punkt wir Meister unseres Schicksals sind. Entlässt uns das Opfer- oder Tätersein in totalitären Regime aus der Verantwortung, zwischen Gut und Böse zu wählen? Ist einzig und allein das tyrannische Regime für die Handlungen derer, die es unterdrückt, verantwortlich? Ich glaube, dass das Konzept des "Bürgers" - wie viele andere, die in diesem Buch zertrümmert werden - eine Abstraktion ist, die dem Morast des täglichen Lebens nicht standhält. (Stefan Gmünder, DER STANDARD - Printausgabe, 2. Mai 2011)