Der Psychoanalytiker und politische Berater Vamik Vokan erklärt, warum Trauer um verlorene Identität gefährlich sein kann. 

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Standard: Die Öffnung des Arbeitsmarkts für Menschen aus osteuropäischen EU-Staaten löst in Österreich Jobängste und Fremdenfurcht aus. Was tun, um die Diskussion möglichst zu versachlichen?

Volkan: Man muss die Ursachen dieser Emotionen benennen. Zusammengefasst liegen sie in den Herausforderungen der Globalisierung für die Identität nationaler Gruppen. Konkret heißt das, dass Österreicher eine Identität als Österreicher haben, als Angehörige einer Nation mit imperialer Vergangenheit, wie man an der Wiener Prachtarchitektur sieht. Das Zusammenwachsen der EU stellt diese Identität in Frage.

Standard: Die imperiale Vergangenheit Österreichs ist schon lang her. Wirkt sie wirklich bis heute?

Volkan: Durchaus, denn lang her fühlt sich manchmal wie gerade gestern an. Wenn die Identität einer Großgruppe, einer Nation, in Frage gestellt wird, etwa weil Fremde kommen, besteht Gefahr einer Gruppenregression. Identitäten von früher, die als glorreich gelten, werden verklärt. Mythos und Realität vermischen sich.

Standard: An Identitäten von früher herrscht in Österreich kein Mangel. Es gab die imperiale, demokratische, austrofaschistische, nationalsozialistische Identität. Hat diese Fülle zu einer nationalen Identitätsschwäche geführt?

Volkan: Ich würde sogar von einer Identitätsfragmentierung sprechen, die den Umgang mit Veränderung sehr erschwert. Als ich 2006 in Wien eine Untersuchung über türkische Einwanderer machte, fiel mir auf, wie sehr diese als Gefahr gesehen wurden, wie stark extreme Gruppierung wie die FPÖ auf sie reagierten.

Standard: Hat der Beitritt Österreichs zur EU zusätzliche Identitätsverunsicherung ausgelöst?

Volkan: Ja, denn davor konnte sich die neue demokratische österreichische Identität niemals wirklich herausbilden. Sie ist 1945 in vielerlei Hinsicht neu erfunden worden - und kaum begann sie zu synthetisieren, hieß es: "Okay, und jetzt gehen wir in die EU, in eine supranationale Union!" Dieser logische Schritt war psychologisch überfordernd.

Standard: Nur in Österreich?

Volkan: Nein, in der ganzen EU. Bei einem Psychoanalytikertreffen 2006 in Budapest habe ich in einer Runde mit Kolleginnen und Kollegen aus der EU die Frage gestellt, was der Beitrag ihres jeweiligen Herkunftslands zur Union sei. Zwanzig Minuten kamen sachliche Antworten, dann sagte die französische Kollegin: "Da wir in der EU alle gleich sind, sind auch alle Sprachen gleichwertig" - und begann, französisch zu reden. Was glauben Sie? Eine halbe Stunde später herrschte Chaos, ein absolutes Sprachendurcheinander. Die EU ist eine sachpolitische Union, die gemeinsame Identität wächst langsam.

Standard: Was tun, damit die Identitätsverirrungen in Zeiten der Einwanderung nicht zu politischer Radikalisierung führen?

Volkan: Das Thema muss öffentlich diskutiert werden - und um die Diskussion fachgerecht zu starten, braucht es Experten von außen. Nationen können über sich selbst nicht nachdenken, dazu sind die Projektionen zu stark.

Standard: Das klingt, als sollte sich Österreich als Nation auf die Psychoanalytikercouch legen.

Volkan: Übertragen auf politische Prozesse ist das auch so gemeint. Wer sich auf die Psychoanalytikercouch legt, bekommt keinen Rat, sondern die Möglichkeit, über die eigenen Konflikte nachzudenken, eigene Lösungen zu finden.

Standard: Wie geht man an so etwas als Staat heran?

Volkan: Indem man Repräsentanten gesellschaftlicher Gruppen - Konservative, Linke, Inländer, Einwanderer - in Gespräche miteinander treten lässt und dies über die Medien möglichst offen kommuniziert. Auch das Konflikthafte, denn Identitätskonflikte nehmen in den Einwanderungsgesellschaften an Sprengkraft zu, das sollte man nicht unterschätzen. Das muss besprochen werden.

Standard: Zu verlangen, die Einwanderer müssten sich um Integration bemühen, reicht nicht?

Volkan: Nein, das ist einseitig. Damit kehrt man den Umstand unter den Teppich, dass auch die Einwanderer um ihre angestammten Identitäten trauern. Die Wirkkraft dieser Trauer wird unterschätzt. 2006 bin ich in Wien am Sonntag einmal auf den Kahlenberg gefahren. Als türkischsprechender Mensch ist mir aufgefallen, dass dort, unabhängig voneinander, viele türkische Einwanderer unterwegs waren. Ich fragte mehrere Gruppen, warum - und habe 16 Mal die gleiche Antwort bekommen: "Wissen Sie denn nicht, was das hier für ein Ort ist? Bei der zweiten Türkenbelagerung stand hier das Zelt des Großwesirs." Diese türkischen Einwanderer verwenden ihren freien Tag, um am Kahlenberg ein wenig osmanischen Mythos zu schnuppern - der dort übrigens mit Niederlage verbunden ist. Ihre Identität ist noch nicht österreichisch genug, vielleicht, weil sie gesellschaftlich Druck erleben.

Standard: Ist es sinnvoll, das zu kommunizieren? Es könnte Ressentiments verstärken - hier gegen Türken in Wien.

Volkan: Nicht, wenn man es als ein Symptom des Verlusts ursprünglicher Identität sieht, das auf Seiten Einheimischer Entsprechungen hat - etwa wenn Wienern die Aussicht, dass in 50 Jahren viele Stadtbewohner Muslime sein werden, missfällt. Solch emotionale Reaktionen muss man akzeptieren, sie sind normal. Nur dürfen sie sich nicht ins Destruktive wenden. (Irene Brickner, DER STANDARD; Printausgabe, 30.4./1.5.2011)