Erich Lessing trifft seine Auswahl bedeutender Szenen aus der Fotogeschichte der Arbeitsmigration in allen Erdteilen.

Foto: Michael Freund

Für den STANDARD wählte er aus dem Archiv der Foto-Agentur Magnum und seinem eigenen wichtige Szenen aus der Geschichte der Wanderarbeit.

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Wien - Legale und illegale Arbeit, schlecht oder gar nicht bezahlt, manches freiwillig und mit Freude, vieles in unzumutbaren Umgebungen geleistet, von kräftigen Erwachsenen oder von Kindern: Erich Lessing sichtet Fotodokumente aus den letzten Jahrzehnten für die vorliegende Standard-Ausgabe.

In gewisser Weise ist es ein Heimspiel, denn er gehört zu der Riege der Fotografen, von denen die Bilder stammen, Mitglieder der Agentur Magnum allesamt. Er kennt die Bilder, weiß von der Symbolwirkung, die sie gehabt haben, von den Geschichten, die mit ihren Machern verbunden sind - Zeitgeschichte, in Einzelmomente zerlegt, in der Erinnerung wieder zusammengefügt.

Es ist ein Heimspiel, doch auch eine ernste Aufgabe, und Lessing widmet sich ihr konzentriert, während er in der Frühlingssonne auf der Terrasse der Konditorei Sluka sitzt, einen Campari Soda vor sich und das Mobiltelefon am Ohr: "Ich brauche die Fotos von dem Migrantenort in der Türkei aus den Fünfzigerjahren", gibt er dem Mitarbeiter in seinem Archiv durch. "Stellen Sie sie bitte in den Server." Klick, Ende, nächstes Bild.

Erich Lessing wird im Juli 88 Jahre alt. Doch wie er umsichtig und professionell das Geschehen weitertreibt, zwischen zwei Gästen am Tisch, dem Frühlingswind in den Papierstößen und dem nächsten Termin im Schwarzen Kameel die Ruhe bewahrt, merkt man ihm die letzten mindestens zwanzig Jahre nicht an. Er ist ein beeindruckender Beweis dafür, dass Arbeit jung hält. Viel Arbeit, die er zwar auch delegiert, für die er aber letztlich verantwortlich ist. Immer wieder ist er unterwegs zu Aufnahmen im In- wie im Ausland. Sieben Angestellte kümmern sich in einem Büro in Neuwaldegg um das "Lessing Photo Archive", sie digitalisieren, restaurieren, versenden, organisieren Ausstellungen. Dabei geht es um einen riesigen Bestand, die Ernte von fast 60 Jahren.

Lessing flüchtete als 16-Jähriger nach Israel, seine Familie kam im Holocaust um. Nach dem Krieg kehrte er nach Österreich zurück, über seine spätere Frau Traudl kam er als Fotoreporter zu Associated Press. 1951 wurde er Mitglied der in Paris kurz zuvor gegründeten Fotografen-Kooperative Magnum. Sein Hauptarbeitsgebiet war der damalige Ostblock, Weltruhm erlangte er mit Bildern aus dem Ungarn-Aufstand 1956.

Schon damals aber fühlte er sich zu anderen Arbeiten hingezogen. "Mein Traum waren die Museen." Ein Traum, der um so realistischer wurde, als die Reportagefotografie ihre Bedeutung langsam verlor. Also begann er, systematisch das archäologische und kulturelle Erbe von Museen und ganzen Landesteilen zu dokumentieren. Dies war eine Arbeit, die auch heute nicht von Schnappschuss-Athleten billig geliefert werden kann - als hätte Lessing gewusst, dass die professionelle Archivierung von Kulturobjekten zu einem nachgefragten Schatz werden würde. Nicht nur die Vielseitigkeit und hohen Standards bewundert daher Lessings junger Branchenkollege Peter Rigaud an ihm, sondern auch "die Klugheit, sich das Recht am Bild zu sichern" - eine alte Magnum-Maxime, bestens weitergeführt.

Ohne Ranküne blickt Lessing auf die Entwicklung der Fotografie in den letzten Jahrzehnten zurück. Selbst arbeitet er nach wie vor im analogen Medium, von Kleinbild bis zur 4x5-Zoll-Fachkamera, aber natürlich lässt er die Ergebnisse digitalisieren. Bis zu 100 MB kann die detailreiche Ansicht einer Skulptur schon ergeben. Doch mit technischen Fachsimpeleien hält Erich Lessing sich nicht lange auf. Der nächste Termin wartet. (Michael Freund, DER STANDARD - Printausgabe, 30. April/1. Mai 2011)