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In John Steinbecks 1939 erschienenem Roman Früchte des Zorns gibt es schon so etwas wie die apokalyptische Vision einer "Bugwelle" von Arbeitsmigranten. Die Familie Joad, die in Oklahoma kein Auskommen mehr hat, sieht für sich einen Ausweg im Westen: "Vielleicht können wir neu beginnen, dort drüben in dem reichen Land - in Kalifornien, wo die Früchte wachsen. Wir werden neu beginnen."

In diesen Optimismus mischt sich aber sofort der Zweifel, denn die Joads, Opfer der Großen Depression, sind mit ihrer Hoffnung nicht allein: "Wir können nicht neu beginnen. Die Bitterkeit, die wir dem Lumpenmann verkauft haben - schön, er hat sie jetzt, aber auch wir haben sie noch. (...) Nach Kalifornien oder irgendwohin - jeder ein Trommelmajor, der eine Schmerzensparade anführt, die marschiert, marschiert mit unserer Bitterkeit. Und eines Tages werden die Armeen der Bitterkeit alle in derselben Richtung gehen. Und sie werden alle zusammen marschieren, und dann wird es Tod und Schrecken geben."

Dieses Bild schillert in seiner Ambivalenz zwischen Verteilungskämpfen und revolutionärem Umbruch, und so war es von Steinbeck auch gemeint, der mit Früchte des Zorns einen Protestroman gegen die Verelendungspolitik der Eliten schrieb. Die Joads sind in die populäre Imagination der USA eingegangen, auch durch den Film, den John Ford mit Henry Fonda in der Hauptrolle gedreht hat, und durch Bruce Springsteens Album The Ghost of Tom Joad. Das Motiv des Aufbruchs nach Westen gehört zum Grundbestandteil dieser Imagination, schließlich begannen die USA mit einer Landnahme an der Ostküste und hatten dann lange Zeit das offene Territorium vor sich.

Was heute im Rahmen der vergleichsweise sanften Einkommens- und Bevölkerungsumverteilungen in der Europäischen Union als "Bugwelle" bezeichnet wird, hatte in den USA häufig eine chaotische Struktur oder war ausdrücklich als Wettrennen organisiert: Schon die Besiedlung von Oklahoma, wo die Joads zu Beginn des Romans leben, war in Form eines "Land Rushs" vor sich gegangen, bei dem die Schnellsten für sich die besten Landparzellen reklamieren konnten. So wurde aus dem vormaligen Indianergebiet mit seiner dezimierten Bevölkerung ein amerikanischer Binnenbundesstaat, in dem weiße Farmer lange Zeit den wesent-lichen Wirtschaftszweig ausmachten. Als die Joads ihre Farm wegen Überschuldung verlieren, kippt das System des auskömmlichen Lebens, und sie werden zu Flüchtlingen im eigenen Land.

Die improvisierten Umstände, unter denen es solche Menschen häufig lange Zeit aushalten (müssen), bilden ein wesentliches Motiv bei Steinbeck, zum Beispiel in einer Szene mit dem jungen Al Joad. "Al kam aufgeregt zurück zum Zelt. ,Das ist ein Camp!', sagte er. Er legte sich auf und goss sich Kaffee ein. ,Wisst ihr, was da hinten einer macht? Er baut sich 'nen Wohnwagen. (...) Hat Betten und Herd und alles. Kannst richtig drin wohnen. Tja, so muss man leben. Wo man anhält, da kann man bleiben. "

Diese Form der prekären Freizügigkeit in einem Land, in dem viele Menschen bis heute keinen Reisepass haben, bildet ein weiteres Element populärer amerikanischer Fantasie. Die Gefahr, zum "trailer trash" abzusinken, setzt ja überhaupt erst die Massenfertigung mobiler Heime voraus, und wächst damit erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. In Steinbecks Roman ist sie schon antizipiert.

Kalifornien als der westlichste Bundesstaat ist bis heute besonders attraktiv für Neuankömmlinge, nicht nur seiner Medienindustrie wegen, in der es viele Möglichkeiten gibt, ohne Ausbildung eine Karriere zu machen. Wer in San Francisco über die Market Street geht, wird aber auch die Schattenseiten sehen: Obdachlosigkeit und Armut im Schatten enormen Reichtums. Am Pazifik stößt die Politik des "Go West", die den USA im 19. Jahrhundert die Wachstumssprünge eines "Bonanza-Kapitalismus" eintrug, an eine natürliche Grenze.

Als Steinbeck seinen Roman schrieb, war das schon abzusehen, denn er gründete seine Erzählung auf journalistische Recherchen über Erntearbeiter in Kalifornien, die er zuvor schon unter dem Titel The Harvest Gypsies (Die Ernte-Zigeuner) veröffentlicht hatte.

Heute kommen diese Arbeiter vorwiegend aus Mittel- und Südamerika, viele von ihnen sind illegal im Land. Und auch in dieser Konstellation ist die gegenwärtige Situation der Europäischen Union deutlich wiederzuerkennen, in der die freie Wahl des Arbeitsplatzes für die Angehörigen der Teilnehmerstaaten ja nur ein Aspekt der absehbaren Ströme ist. Den anderen bilden die "Armeen der Bitterkeit", die aus allen Himmelsrichtungen an die EU-Außengrenzen drängen - Reservebrigaden in einer globalisierten Welt, die Steinbeck so noch nicht absehen konnte. (Bert Rebhandl, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 30. April/1. Mai 2011)