Christine Schäfer und Andrea Utzig sind sich einig: Positive Emotionen wie Geduld, Wertschätzung und Zugetan-Sein spüren Demenzkranke lange.

Christine Schäfer (61) ist Psychologin und Vorstandsvorsitzende der Privatstiftung Caritas Socialis. Sie war Bereichsleiterin auf Tageszentren für Demenzkranke.

Foto: Standard/Regine Hendrich

Andrea Utzig (51) ist diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegerin und stellvertretende Leiterin des Pflegeheims der Caritas Socialis in Kalksburg.

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Arno Geiger: "Der alte König in seinem Exil". Hanser, 18,40 Euro

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Cyrille Offermans: "Warum ich meine demente Mutter belüge". Kunstmann, 15,40 Euro

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Tilman Jens: "Demenz - Abschied von meinem Vater". Goldmann, 18,50 Euro

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Martin Suter: "Small World". Diogenes, 10,20 Euro (auch als DVD)

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Wie sehen Pflege-Experten wie Christine Schäfer und Andrea Utzig von der Caritas Socialis Demenz, und wie beurteilen sie all jene Bücher, die den Verlust des Ich darzustellen versuchen. Karin Pollack fragte nach.

Standard: Haben Sie beide eigentlich Angst vor Demenz?

Schäfer: Nein, ich weiß zwar, dass es mich treffen könnte, aber es könnten mich ja viele andere Krankheiten auch treffen. Im Gegensatz zu anderen sehe ich, dass Menschen trotz Demenz zufrieden sein können. Entscheidend ist, dass ein entsprechendes Umfeld geschaffen wird, dass die Betreuungspersonen jede Art der Überforderung vermeiden. Geborgenheit bieten, darum geht es.

Utzig: Ich fürchte mich auch nicht, weil wir täglich erleben, wie wir unseren Bewohnern mit Demenzerkrankungen das Leben erleichtern können. Niemand fordert mehr etwas von ihnen. Wir nehmen uns aber trotzdem viel Zeit, hören zu. Das sind einfache Maßnahmen, die unsere Bewohner alle sehr schätzen. Damit sind die Angehörigen, die ihren eigenen Alltag und den des Kranken managen müssen, oft überfordert. Wir sind zwar nicht Familie, die Arbeit bei der Caritas Socialis baut aber auf einem Pflegemodell auf, dem Beziehungsarbeit zugrunde liegt.

Schäfer: Überforderung erleben wir oft. Vor allem zu Beginn der Erkrankung. Nicht nur bei Betroffenen, sondern auch bei Angehörigen. Es geht anfangs wirklich darum, die Krankheit zu verstehen.

Standard: Und zwar?

Schäfer: Den sukzessiven Abbau des Gehirns und damit verbunden der kognitiven Fähigkeiten. Die Erkrankung lässt sich nicht heilen, höchsten ein bisschen bremsen. Demenzkranke ruhen nicht mehr in sich, sie verlieren zuerst das Gefühl für Zeit, dann die räumliche Orientierung. Mit der Zeit gehen auch soziale Kompetenzen verloren, sie erkennen die Angehörigen nicht mehr. In späten Stadien ist ihnen so gar das eigene Spiegelbild fremd. Das erzeugt ein Gefühl großer Hilflosigkeit. Wir versuchen trotzdem, immer die Menschen als die zu sehen, die sie einmal waren. Denn Demenzkranke wollen sich trotz ihrer Defizite weiter angenommen und geschätzt fühlen.

Standard: Eine Reihe von Schriftstellern hat ihre persönlichen Schicksale mit Demenzerkrankungen ihrer Eltern zu Romanen verarbeitet. Ist das gelungen?.

Schäfer: Arno Geiger ist ein wunderbares Beispiel dafür, wie das Verständnis der Krankheit, nämlich die Demenz des Vaters, zu einem liebevollen Umgang führen kann. Es wird sehr gut beschrieben, wie das Vermeiden von Konflikten funktioniert, wie der Bezug zur Realität immer unwichtiger wird, mit welchem Verhalten die Nöte des Vaters gelindert werden.

Utzig: Wohlfühlen lässt sich beeinflussen, davon bin ich überzeugt. Es ist zwar schwierig, wenn un-sere Kranken plötzlich wieder Sehnsucht nach der eigenen Mutter haben oder rastlos ihre Kinder suchen. Aber es gelingt, sie auch immer wieder zu beruhigen.

Standard: Wie helfen Sie?

Utzig: Ruhe vermitteln, den Menschen in die Augen schauen, eine Hand auf ihren Arm legen. Demenzkranke haben bis in ganz späte Phasen der Erkrankung ein gut ausgeprägtes Sensorium für Situationen und Stimmungen.

Standard: Wie verläuft der Verlust des Ich?

Schäfer: Es gibt ein gutes Buch von Christian Thuile, der seine Demenzpatienten bat, Tagebuch zu führen, und damit sehr genau beobachten konnte, was passiert. Die Diagnose Demenz ist natürlich immer ein Riesenschock, denn am Anfang der Erkrankung bekommt man das als Betroffener noch mit, hat Angst. Eine Zeit gelingt dann der Alltag noch, aber schnell entgleitet einem sukzessive jede Kontrolle. Mal erkennt man den Nachbarn, dann wieder nicht. In Thuiles Buch ist dokumentiert, wie sich jemand fühlt, dessen Welt zusammenbricht. In späteren Phasen der Erkrankung tritt großes Vergessen ein. Das ist oft sehr schmerzlich für Angehörige, zum Beispiel dann, wenn einen der eigene Partner nach 50 Jahren Ehe nicht mehr erkennt.

Utzig: Demenz ist vor allem auch eine Krankheit der Angehörigen. Demenzkranke, die noch erkennen, dass sie Dinge vergessen, haben es am schwersten. In späteren Phasen stehen die körperlichen Beeinträchtigungen im Vordergrund.

Schäfer: Das Vergessen vergessen, ich denke, so lässt sich der Zustand am besten beschreiben. Ich erinnere mich an einen Universitätsprofessor, der mit fortgeschrittener Demenz ins Tageszentrum kam. Als die Anforderungen der Umwelt an ihn aufhörten, er nur noch mit einfachen Aufgaben konfrontiert wurde, war er unglaublich erleichtert.

Standard: Wie fanden Sie die literarische Zugänge zu Demenz?

Schäfer: Arno Geiger liefert ein sehr einfühlsames Bild.

Standard: Der Neurologe Peter Dal Bianco meinte unlängst auf der Veranstaltung "Seliges Vergessen", es sei zu beschönigend ...

Schäfer: Da widerspreche ich. Ich denke, das Buch ist ein Beispiel für eine gelungene Vater-Sohn-Beziehung in der Auseinandersetzung mit Demenz. Nicht alle Demenzerkrankungen verlaufen so ausgeglichen, natürlich erleben wir auch bei den Aufnahmegesprächen ins Tageszentrum verzweifelte Angehörige, aggressive Patienten. Doch Aggression ist bei Demenz oft Ausdruck von Überforderung. Geiger beschreibt seinen Lernprozess mit dem Vater. Verallgemeinern lässt sich das aber nicht, denn Demenzerkrankungen, dauern zwischen sieben und 15 Jahren, oft aber auch noch länger.

Standard: Wissen Sie als Pflegende immer, wie es Kranken geht?

Schäfer: Nein, aber wir versuchen nachzuempfinden, wie sich derjenige Mensch, dessen Geschichte wir ja meistens kennen, fühlen könnte. Oft sage wir ins Blinde: "Ich kann mir vorstellen, wie Sie sich fühlen, was in Ihrem Kopf vorgeht, und ich versichere Ihnen, Sie sind der gleiche Mensch, der Sie früher waren." Ich sehe die Entlastung, die diese Worte bei Demenzkranken erzeugt.

Utzig: Vieles können wir aber auch einfach nicht verstehen. Das Inhaltliche verliert auch zusehends an Bedeutung, was bleibt, ist eine Stimmung der Ruhe und Respekt im Plauderton.

Standard: Wie fanden Sie "Warum ich meine Mutter belüge?"

Utzig: Authentisch, es beschreibt die Anfangszeit einer Demenz- erkrankung und den Umgang der Angehörigen damit. Vor allem der Punkt, auf professionelle Hilfe zurückzugreifen, weil man als Angehöriger die Pflege allein nicht mehr schafft, ist ein sehr wichtiges Moment. Das wird ehrlich und offen thematisiert. Ich habe auch in Tilman Jens' Buch viele bekannte Situationen wiedergefunden, zum Beispiel die, dass Angehörige sich nicht trauen, zu sagen, dass die Übersiedelung in ein Pflegeheim nun endgültig ist.

Schäfer: Angehörige sind in einer extrem schwierigen Situation. Da ist Trauer über den Verlust eines Menschen, die Frage, wie alles weitergeht. Auch der Umgang mit den Kranken ist ja am Anfang der Erkrankung extrem schwierig. Viele versuchen, ihren Zustand zu verbergen, das verursacht Konflikte. Trotzdem finde ich Belügen keine Lösung. Es gibt andere Wege, die Angst zu nehmen.

Utzig: Wir erleben diese schwierigen Situationen oft, wählen aber in unserem Konzept den ehrlichen Weg, sagen den Menschen, dass ihr zu Hause jetzt bei uns ist. Das tut ihnen oft weh, ist mit Kränkung, Enttäuschung und Sorge verbunden, aber es ist erfahrungsgemäß der bessere Weg.

Standard: Wie fanden Sie "Small World"?

Schäfer: Das Buch ist gut, auch der Film. Aber es ist stark ein Roman, in dem die Demenz nicht im Zentrum steht. Es gelingt Suter gut, den Verlust der Orientierung darzustellen, allerdings driftet es gegen Ende ins Absurde ab.

Utzig: Für mich war Suter kurzweilig, nur viel über die Erkrankung erfährt man eigentlich nicht.

Standard: Wie gehen Sie in der Caritas Socialis mit Konflikten um?

Utzig: Wir finden eine Lösung entsprechend dem Krankheitsstadium. Allerdings geht es uns nie darum, in einer Konfliktsituation etwas auszudiskutieren oder einen Kranken von etwas zu überzeugen, das ist unmöglich. Deeskalieren, darum geht es.

Schäfer: Auch das Ablenken von eigentlichen Konflikten ist eine gute Strategie. Wir müssen als Pflegende kreativ sein.

Standard: Gehen Kranke auch neue Bindungen ein?

Utzig: Emotionalität verschwindet bei Demenzkranken erst in sehr späten Stadien. Wir hatten gerade unlängst ein Paar, das sich verliebt hat. Nur das ist immer auf Zeit, denn die Krankheit macht Bindungen langfristig nicht möglich.

Standard: Woran sterben diese Menschen?

Utzig: Mit der Demenz ist auch ein körperlicher Abbau verbunden. Viele vergessen dann zu essen und zu trinken, auch das Schlucken funktioniert nur noch schlecht. Im Rahmen einer Ethikbesprechung mit dem Patienten, den Angehörigen und dem interdisziplinären Team entscheiden wir dann, ob wir Kranke über eine Sonde künstlich ernähren. Wir fragen uns immer: Was könnte dieser Bewohner gewollt haben. Unbedingt notwendig dafür ist die vorangegangene Biografiearbeit.

Schäfer: Schluckbeschwerden und Bettlägrigkeit lösen oft eine Lungenentzündung aus. Irgendwann können diese Menschen aber nicht mehr aufstehen, weil der Befehl vom Kopf nicht in die Beine weitergeleitet wird. Kognitive und soziale Fähigkeiten gehen verloren, zum Schluss verblassen auch die Emotionen. Aber wenn ich mich ans Bett setze und einem Demenzkranken die Hand halte, dann spürt dieser Menschen das bis zuletzt. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 02.05.2011)