Wir treffen uns auf der Freyung, Ecke Strauchgasse. Ich erkenne Bernhard Dorfmann, den Begründer der Citycyclingschool, an seiner Fahrradschuluniform. Zuerst besprechen wir die gewünschte, weil von der Schülerin oft zu fahrende Route - "bitte quer durch den Ersten". Bernhard weist darauf, dass wir uns ab jetzt in eine "Lehrer-Schüler"-Situation und in eine "Guiding"-Situation begeben. Nach jeder "besonderen Verkehrssituation" werden wir anhalten um diese zu besprechen. Los geht's mit den beruhigenden Worten des Instruktors: "Folge mir. Ich fahre so voraus, dass du mir vertrauen kannst."

Foto: derStandard.at/tinsobin

Apropos trauen: "Du traust Dich nicht, in Wien Rad zu fahren, obwohl Du es gerne möchtest?" Wer sich mit dieser Aussage identifizieren kann, ist in der Citycyclingschool definitiv richtig. "Ich kann jedem das Handwerkszeug mitgeben, damit er so sicher wie möglich durch die Stadt kommt", sagt Bernhard. Mitte August 2010 hat er die Citycyclingschool als Ein-Mann-Unternehmen begründet. Spaß an der Bewegung ist die Kraft, die ihn treibt.

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Komplexe Verkehrssituation: Arbeiter mit Leiter, Baustelle, zwei Mal aufgehende Autotüren, Einbieger von rechts... Das Beherrschen des Radfahrens ist Voraussetzung für das Training mit Bernhard Dorfmann. "Radfahren in der Stadt ist nach meiner Sicht eine eigene Kategorie. Es ist viel, viel mehr als nur Radfahren können", weiß er. Wie soll man sich nun beim Radfahren in der Stadt verhalten, um sich und die anderen Verkehrsteilnehmer nicht in gefährliche Situationen zu bringen? Etwa durch eine Auffrischung der wichtigsten StVO-Vorschriften und die Beherzigung der Citycyclingstandards: Handzeichen, Schulterblick, Klingeln, Ausscheren, Überholen, rechts-aber-nicht-allzu-weit-rechts-Fahren, Kommunizieren mit anderen Verkehrsteilnehmern mittels Lauten, Gestik und Mimik... Klingt altbekannt, ist aber Bernhards ureigener Katalog.

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Tuchlauben: wenig Verkehr, wir überholen ein Fiakergespann. Bernhard: "Fiaker sind Freunde der Radfahrer, weil sie die Geschwindigkeit des KFZ-Verkehrs verringern und wir sie locker überholen können, worauf wir dann freie Fahrt haben."

Wie er auf seine Citycyclingstandards gekommen ist? Unter anderem, weil er Zeuge von Unfällen geworden ist: "Vor mir ein Radfahrer, davor ein Fußgänger am Radweg, der sms schreibt. Der Radfahrer klingelt und klingelt. Ohne Ergebnis. Er ringt mit der Entscheidung: links, rechts? In eineinhalb Meter Entfernung entscheidet er sich und schwenkt nach links. Der Fußgänger auch. Ich habe mich gefragt: Wie lässt sich so etwas vermeiden?"Bernhard begann seine eigenen Strategien aufzuschreiben und zu systematisieren. Er erkannte "das hat einen Wert".

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Aber gibt es nicht schon genug Regeln? "Meine Verkehrs- und Verhaltensregeln unterscheiden sich von denen der Polizei oder des Kuratoriums." Sie kommen aus der Praxis des Stadtfahrens. Und Stadt ist nicht gleich Stadt. "Wenn ich in Graz wäre, könnte ich auf meine Techniken zurückgreifen, aber ich wäre 'blind'." Bernhard konkretisiert: "Ich weiß, wie Wien tickt. Für Graz weiß ich es nicht."

Eine Gruppe Touristen am Schottenring. Wir halten an und warten. Nicht nach einer Lücke suchen und durch die Gruppe pflügen! Auch nicht klingeln! "Die Klingel wird in 80 Prozent aller Fälle falsch eingesetzt", weiß Bernhard. "Klingelt man fünf bis zehn Meter hinter dem Fußgänger, nimmt dieser das meistens wahr und zugleich etwas, was mit hoher Geschwindigkeit an ihm vorbei zischt." Schreck und Aggression sind die Folgen.

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Ecke Führichgasse/Augustinerstraße/Albertinaplatz: Wir steigen ab und begutachten diese spezielle Situation mit Einbahn, Mehrzweckstreifen gegen die Einbahn, Kreuzungsverkehr, Schutzweg.

Zu Bernhards Citycyclingstandards zählt, dass Radfahrer Fußgänger absolut respektieren. "Sie sind das schwächste Glied in der Kette. Sie bestimmen, was passiert". Aber was tun, wenn Fußgänger mit Kopfhörern auf und am Handy tippend mit dem Rücken zu mir mitten auf dem Radweg gehen? Bernhard: "Immer im großzügigen Abstand von ein paar Metern rechts oder links von ihnen langsam vorbei fahren."

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"Ich gebe meine eigenen Erfahrungen weiter", sagt Bernhard. "Im Jahr lege ich gut 16.000 Kilometer mit dem Fahrrad zurück." Wie das? "Seit 2001 bin ich als Fahrradkurier für Veloce tätig" - unter dem Fahrernamen "Brenner". Fahrradbote!? Der Schrecken aller Verkehrsteilnehmer. Der kritische Verstand der Fahrradschülerin schaltet sich ein: Predigt er etwa Wasser und trinkt Wein? Kann er sich selbst einen derart defensiven Umgang mit Fußgängern leisten, wo in diesem Job Schnelligkeit alles ist? "Ich fahre genauso, wie ich es vermittle", betont der Chef der Fahrradschule. "Geschwindigkeit ist nur einer von mehreren Aspekten. Ein unerfahrener Fahrradbote fährt vielleicht drei Mal so schnell wie ich und verliert seine Zeit auf der Suche nach der kürzesten Route oder in Gebäuden."

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Am Parkring begutachteten wir eine Stelle, die wie eine Radfahrerüberfahrt aussieht, aber keine ist. "In Wien gibt es mehrere solche Stellen und allgemein muss festgehalten werden, dass es keine sichere Radrouten gibt, sondern nur sichere Radfahrer - oder nicht", sagt Bernhard. "Es gibt keine sichere Route durch die Stadt. Die Stadt besteht aus unsicheren Stellen. Du musst ununterbrochen für alle mitdenken. Wir sitzen erhöht, haben eine Rundumsicht und nehmen an, dass alle anderen Verkehrsteilnehmer das auch so sehen. Das ist ein Irrtum. Autolenker sitzen niedriger, ihr Blickfeld ist von Verstrebungen und Spiegelungen eingeschränkt."

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Am Karlsplatz entgegenkommende Fußgänger, "aber nicht so viele, dass zu wenig Platz für gefahrloses Vorbeifahren vorhanden gewesen wäre", hält Bernhard fest. Mit seinen Schülern erarbeitet er im Rahmen des Angebots Bike 2 Work das Alltagsradfahren. "Ich bringe meine Schüler in der Früh von zuhause in die Arbeit und hole sie am Abend wieder ab." Ein paar Mal fährt er mit ihnen die Tour, dokumentiert Gefahrenstellen, bespricht, fotografiert, schreibt und schickt die Route per e-mail - damit sich alles setzen kann, in Erinnerung bleibt, Routine wird.

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"Ökonomisch, mitweltfreundlich und schön - ja schön - gibt es Dir die Hoheit über Zeit und Raum zurück." Das sind die Worte, die Bernhard für das Fahrradfahren gefunden und auf seine Webseite gestellt hat. "Ich will, dass mehr Leute Fahrrad fahren. Mir taugt das Unterrichten extrem und ich habe keine Berührungsängste", erklärt er. Seine pädagogischen Fähigkeiten machen sich in der Praxis bemerkbar: Die Fahrradschülerin wird aufgefordert, vor ihm zu fahren. Und siehe da: Anstatt eines Gefühls des Beobachtet- und Beurteilt-Werdens macht sich Ruhe und Entspanntheit breit.

Foto: Bernhard Dorfmann

Linkskurve, Rechtskurve. Der Fuß am Pedal innen bleibt in der jeweiligen Kurve oben. Das Stadtfahren wird nach Wunsch und Notwendigkeit auf einem verkehrsfreien Platz durch Übungen zur Beherrschung des Fahrrads ergänzt: aufsteigen, absteigen, starten, stoppen, schnell und langsam fahren, balancieren, schwenken, ausweichen, enge Kurven fahren etc.

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Die Fahrradschülerin macht es nach.

Noch eine kritische Frage: Ist die Citycyclingschool ein Unterfangen für Snobs und Bobos - kurz: Kann sich ein Wenigverdiener einen Instruktor leisten, der ihm den Weg durch die Metropole bahnt? "Meine Preise sind und bleiben moderat", sagt Bernhard. "Ich will und kann damit nicht reich werden, aber ich bin durch meine Arbeit als Bote finanziell auch nicht auf die Citycyclingschool angewiesen." Ein Bild davon machen kann man sich auf www.citycyclingschool.at

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Je nach Bedarf kann man in der Citycyclingschool eine Reihe von Kursen buchen: "Entry" beinhaltet eine Stunde lockeres Radfahren, Wege erschließen, Gefahrenstellen kennenlernen. "Bike 2 Work" setzt die Grundlagen für die regelmäßige Nutzung des Fahrrads auf dem Weg zur Arbeit. "Professional" heißt der Radfahrkurs für Profis wie Radpendler oder Fahrradboten - für alle, die Radfahren in der Stadt als kunstvolle Bewegung verstehen und ihrem Verständnis mit Perfektion und Eleganz Ausdruck verleihen wollen. Und was sagt der Profi selbst? "Ich fahre weil es toll ist. Ich bin einer, der auch am Wochenende noch fährt, weil es mein Vergnügen ist." (Eva Tinsobin, derStandard.at, 01.05.2011)

Foto: derStandard.at/www.bikemap.de