Keine Eminenz in den USA ist grauer und zugleich eminenter als Henry Kissinger. 1923 im fränkischen Fürth geboren, 1938 in die USA ausgewandert, absolvierte er eine fulminante Laufbahn, von Harvard über die Camelot-Tage am Hofe Kennedys bis zu seiner Zeit als Berater unter Nixon. 1973 bis 1977 war er Außenminister. Ins erste Jahr dieses Amtes fielen sowohl der Coup gegen Allende in Chile als auch die Verleihung des Friedensnobelpreises an Kissinger (für seine Rolle im Waffenstillstandsabkommen zwischen Nordvietnam und den USA).

Heute betreibt der von Freunden wie Gegnern als Realpolitiker par excellence bezeichnete Kissinger eine Beratungsgesellschaft für internationale Unternehmen. Sie war einer der Gründe, warum er im vergangenen Dezember nach zwei Wochen den Vorsitz einer Kommission zurücklegte, die das Versagen der Geheimdienste bei 9/11 untersuchen sollte: Zu viele Interessenkonflikte wurden befürchtet.

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Kaserer: Mr. Kissinger, der deutsche Philosoph Jürgen Habermas hat vor kurzem geschrieben, die USA hätten wegen des Präventivschlags gegen den Irak ihre normative Autorität in der Welt verloren. Stimmen Sie dem zu?
Kissinger: Ich respektiere Jürgen Habermas sehr. Aber diese Kritik berücksichtigt nicht die vorherrschende Tatsache unserer Zeit: den Wechsel von einem internationalen System, das mit dem Westfälischen Frieden geschaffen wurde, zu einem neuen System, das gerade heranreift. Die Prinzipien des Westfälischen Friedens basierten auf der Souveränität von Staaten und definierten das Überschreiten internationaler Grenzen durch organisierte Einheiten als Aggression. Aber der 11. September brachte mit der Privatisierung der Außenpolitik durch Nichtregierungsgruppen, die heimlich oder direkt von traditionellen Staaten unterstützt werden, eine neue Herausforderung. Und durch die Ausbreitung von Massenvernichtungswaffen droht die globale Verwüstung.

Kaserer: Aber wo ist da die Verbindung zum Irak?
Kissinger: Diejenigen, die unsere politischen Entscheidungen fällen, sehen in der Weitergabe von Massenvernichtungswaffen eine Verbindung mit dem Thema des Terrorismus in der Region, von der die Attacken des 11. September ausgingen. Verstandesmäßig stimme ich dem zu. Dies sind beides Probleme, die in gewisser Weise nach präventiven Lösungen verlangten, weil man nicht auf einen tatsächlichen Akt der Aggression warten kann.

Kaserer: Sie meinen einen Präventivschlag?
Kissinger: Nur in dem Sinne, dass man mit der Bedrohung fertig werden muss, bevor sie eingetreten ist. Aber ich bin nicht damit einverstanden, dass eine einzige Nation auf lange Sicht die Art der Bedrohung und das Ausmaß der Prävention definieren darf. Deshalb sollte es eine Diskussion zwischen Amerika und insbesondere unseren Alliierten sowie anderen Ländern geben, nach welchen Prinzipien Prävention gerechtfertigt und plausibel ist.

Kaserer: Kann man durch Krieg Frieden schaffen?
Kissinger: Das hängt davon ab, was Sie unter Frieden verstehen. Die Idee eines Friedens ohne Spannungen ist ein philosophisches Konstrukt, das in der ganzen Geschichte nie real vorkam. Aber gab es Friedensperioden, die durch Kriege zustande kamen? Nach den Napoleonischen Kriegen gab es über 100 Jahre lang keine größeren Kriege. Kann ein Krieg alle Probleme lösen? Nein. Aber darum ging es im Fall des Irak auch nicht. Kann der Krieg überhaupt etwas lösen? Deutschland weiß aus seiner eigenen Geschichte, dass Kriege viele Veränderungen bringen, sei es zum Guten oder zum Schlechten.

Kaserer: War es richtig, dass die USA den Krieg gegen den Irak ohne UN-Mandat begannen?
Kissinger: Grundsätzlich habe ich die Bush-Regierung beim Krieg gegen den Irak unterstützt. Die meisten Krisen des Kalten Krieges - zum Beispiel wegen Berlin - wurden ohne UN-Mandat bewältigt. Nur zwei Kriege seit dem Zweiten Weltkrieg hatten ein Mandat des Sicherheitsrats, wobei eines von ihnen aus dem Zufall eines sowjetischen Boykotts des Sicherheitsrats resultierte.

Kaserer: Für die von Ihnen angeführten Punkte gibt es nicht viele Belege im Irak. Bisher wurden keine Massenvernichtungswaffen gefunden, und die Verbindungen zu Al-Kaida sind sehr dürftig.
Kissinger: Ich habe mit Geheimdienstlern aus den USA und Großbritannien, auch solchen ehemaliger US-Regierungen gesprochen. Niemand stellt in Zweifel, dass es dort Massenvernichtungswaffen gibt. Ich habe nie von einem Gegenbeweis zu den Informationsgrundlagen gehört, die das Handeln des Präsidenten bestimmten und wegen denen Präsident Clinton 1998 beinahe in den Krieg gezogen wäre.

Kaserer: Die USA haben im Krieg gegen den Irak gesiegt, aber werden sie auch den Frieden gewinnen?
Kissinger: Frieden ist ein relativer Begriff. Es wird gewiss Verbesserungen gegenüber der Situation unter Saddam geben. Das wird sehr schwierig, und es wäre mit besseren transatlantischen Beziehungen leichter.

Kaserer: Was sind die gravierendsten Probleme?
Kissinger: Stabilität zu erreichen, eine Regierung zu bekommen, die die Ordnung wieder herstellt und zugleich die Verantwortung an die Bevölkerungsmehrheit abgibt. Angesichts der verschiedenen Nationalitäten und Religionen ist das nur sehr schwer zu bewerkstelligen.

Kaserer: Sie würden nicht mit den UN direkt oder dem Sicherheitsrat zusammenarbeiten?
Kissinger: Solange die Verbündeten so geteilter Meinung sind, würde der Prozess im Sicherheitsrat sie nur wieder auseinander dividieren. Meiner Ansicht nach wäre das für niemanden gut, sondern würde wieder zu einem potenziellen Auseinanderbrechen der westlichen Allianz führen. Ich glaube dagegen, dass ein Bruch vermieden werden sollte.

Kaserer: Glauben Sie, dass die Situation im palästinensisch-israelischen Konflikt zurzeit der Situation nach dem ersten Golfkrieg ähnelt? Wird dies der Beginn eines neuen Friedensprozesses sein wie vor fast zehn Jahren in Madrid und Oslo?
Kissinger: Heute ist es anders. Ein Friedensprozess zwischen Israel und den Palästinensern kann und wird beginnen. Beide Seiten haben unter der Intifada genug gelitten; das ist ein Anreiz für Verhandlungen. Das große Problem besteht darin, wie man den Prozess in Gang bringt. In der Vergangenheit hätte ich eher begrenzte Schritte einem umfassenden Schema wie dem Friedensfahrplan vorgezogen. Aber ich möchte das nicht präjudizieren, bevor die Verhandlungen überhaupt begonnen haben.

Kaserer: Zu den Hauptzielen Ihrer Außenpolitik gehörten "stabile" und nicht unbedingt demokratische Länder.
Kissinger: Das ist mehr als eine grobe Vereinfachung. Es gibt Grenzen für das, was irgendein Land tun kann, um die Welt zu verändern. Insbesondere sollte es sich mit Versuchen zurückhalten, in die inneren Verhältnisse anderer Staaten einzugreifen. Es gibt Extremsituationen, wo wir das machen sollten. Ich habe beispielsweise die Intervention in Bosnien unterstützt. Und ich hätte auch eine Intervention in Ruanda unterstützt. Auf der anderen Seite kann es keinen wirklichen Fortschritt ohne Stabilität geben. Je stärker die Ordnung zerstört ist, desto mehr Gewalt muss man einsetzen, um irgendeine Ordnung wieder herzustellen. Für mich sind Stabilität und Fortschritt keine Gegensätze. Eines ist gewiss: Wir befinden uns in einer Periode außergewöhnlicher globaler Veränderungen.

Kaserer: Bedeutet das eine neue Weltordnung?
Kissinger: In allen Zeiten herrscht ein internationales System, das eine Art von Weltordnung repräsentiert. Die Welt befindet sich nun in einem Prozess des Aufbaus einer neuen Ordnung. Sie entwächst dem Zusammenbruch des Kommunismus, den Massenvernichtungswaffen, der Privatisierung der Außenpolitik, der Globalisierung der Wirtschaft und der Kluft zwischen ökonomischer und politischer Globalisierung.

Kaserer: Was meinen Sie mit Privatisierung der Außenpolitik?
Kissinger: Die Terroristengruppen sind im Wesentlichen private Gruppen und keine Regierungsorganisationen. Sie werden zwar von Staaten finanziert, aber ihre Ziele sind nicht mit denen dieser Staaten identisch. Einige Prinzipien der Außenpolitik lassen sich nicht auf sie anwenden. Abschreckung funktioniert nicht bei Gruppen, die nichts zu verteidigen haben. Diplomatie funktioniert nicht bei Gruppen, die keine Kompromisse eingehen. Deshalb können auch die Prinzipien des Westfälischen Friedens nicht funktionieren, wenn man es mit privaten Gruppen, die eine revolutionäre Außenpolitik betreiben, oder mit einer Bedrohung solchen Ausmaßes zu tun hat, dass man nicht warten darf, bis die Bedrohung real wird. Man muss nach Einschätzung der Bedrohung handeln. Dies ist ein Problem, dem sich die Welt in Nordkorea und fast sicher auch bei anderen Staaten gegenübersehen wird.

Kaserer: Wie tangiert die neue Weltordnung die amerikanische Außenpolitik?
Kissinger: Wir werden, wie jedes andere Land, in den nächsten fünf Jahren zweifellos bedeutsame Debatten über die Außenpolitik führen müssen. In Europa, insbesondere in Deutschland und Frankreich, wird die Ansicht vertreten, Amerika habe eine Art illegitime Regierung, mit der man nicht kommunizieren könne. Das ist falsch. Es muss einen ernsthaften Dialog mit demjenigen geben, der tatsächlich die amerikanische Außenpolitik bestimmt, und das ist zufällig der Präsident.

Kaserer: Von Deutschland und Frankreich angeschoben?
Kissinger: Nach dem, was passiert ist, wäre es meiner Ansicht nach hilfreich, wenn die erste Anstrengung - oder zumindest eine symbolische Anstrengung - von Deutschland und Frankreich ausginge. Aber die USA sollten auch konstruktiv und großmütig darauf reagieren. Die Allianz fällt ohne diese Bemühung auseinander. Die westliche Welt, die große Zivilisationsleistungen vollbracht hat, wäre dann organisch am Ende. Sie hätte sich selbst durch interne Rivalitäten zerstört. Die Frage lautet: Findet die westliche Zivilisation eine gemeinsame Definition der Welt, in der sie selbst existiert, und der Chancen und Gefahren, mit denen sie konfrontiert ist?

Kaserer: Und die Antwort lautet?
Kissinger: Wegen des aktuellen Zustands könnte man einen negativen Standpunkt einnehmen. Ich mag das aber nicht akzeptieren. Ich hoffe, dass wir einen Dialog über Themen wie Weitergabe von Waffen, Globalisierung und Terrorismus haben werden. Wir müssen zu gemeinsamen Positionen kommen. Wir werden nicht immer identische Meinungen haben. Ich war extrem beunruhigt über das, was in den letzten Monaten geschah. Meine Generation glaubte an die atlantische Welt. Jetzt droht sie auseinander zu fallen. Zurzeit definiert sich ein Großteil der EU-Politik darüber, Strukturen zu schaffen, die die USA herausfordern.

Kaserer: Haben die Probleme nur etwas mit Kommunikation zu tun oder auch mit unterschiedlichen Philosophien?
Kissinger: Zum Teil ist es die Philosophie. Es hat vor allem zu viele Spielereien mit kurzfristigen Meinungen gegeben. Je mehr man jetzt die unterschiedlichen Ansichten von Deutschland und Amerika betont, desto schwieriger wird es, einen Weg zurück zu konstruktiven Beziehungen zu finden.

Kaserer: Welche Rolle spielt Russland in all dem?
Kissinger: Russland sollte als ein konstruktiver Partner im internationalen System willkommen geheißen werden. Ich würde es vorziehen, wenn die traditionelle transatlantische Gruppe zu einem gewissen Einverständnis käme und dann Russland dazu bäte. Am schlechtesten wäre es, wenn man Russland ermutigte, eine Politik des Machtgleichgewichts innerhalb der westlichen Welt zu spielen. Das könnte den traditionellen russischen Nationalismus wiederbeleben, der mit zum russischen Desaster führte. Es ist besser für Russland, in bestehende Strukturen einzutreten, als zu versuchen, sich seinen Weg durch die Lücken zwischen den vorhandenen Institutionen zu erzwingen.

Kaserer: Die Europäische Union wird demnächst einen Außenminister haben. Ist das die eine Telefonnummer, die Sie schon immer gerne haben wollten?
Kissinger: Vom technischen Standpunkt her, ja. Aber es wird vom Inhalt dieser europäischen Außenpolitik abhängen. [](DER STANDARD, Printausgabe, 17./18.5.2003)