Würschtel in Blockform sind das Resultat der Arbeit von Kanalarbeitern in Indien: schwarzgraue Blöcke aus menschlichen Exkrementen.

Foto: Wellcome Collection

Einmal nicht aufgepasst, schon ist man als Besucher im Dreck gelandet. Genauer gesagt in Igor Eskinjas Hausstaub. Peinliches Entsetzen erfasst einen - man ist immerhin in ein Ausstellungsstück getreten. Aber eine freundliche Helferin eilt herbei und beruhigt: "Nicht so schlimm. Das verändert sich täglich", sagt sie. "Sie müssen bald wiederkommen und einen Vergleich ziehen."

Mit "das" ist ein namenloses Werk des 35-jährigen Künstlers aus Kroatien gemeint: graue Flusen auf dem Boden der Wellcome Collection in London. Eskinjas veränderliches Staubfeld ohne jede Schutzabsperrung vor den Füßen tölpelhafter Museumbesucher ist eines der Highlights von Dirt. Der Name der Ausstellung ist Programm, will sie doch der schmutzigen Realität des Alltags auf den Grund gehen, so das Motto der Schau.

"Wir setzen uns ungern mit Schmutz auseinander, unsere Beziehung dazu ist von faszinierender Ambivalenz", sagt Chefkurator Ken Arnold. Das stimmt gewiss für die heutige Zeit, in der Ärzte Eltern vor penibler Hygiene bei ihren Kindern warnen. Während des Parforceritts durch die Kulturgeschichte des Unrats zeigt Dirt hingegen etliche Beispiele aus der Geschichte, in denen der Umgang mit Schmutz weniger eine Frage von Verzärtelung und allergiegeplagten Kleinkindern war, sondern von Leben und Tod.

Ein eigener Saal erinnert an den verheerenden Cholera-Ausbruch im Londoner Stadtteil Soho im September 1854. In zehn Tagen kamen im damaligen Elendsviertel 500 Menschen ums Leben, teilweise dahingerafft binnen weniger Stunden von jener Krankheit, deren Ursache man damals in einer Ausdünstung des Bodens vermutete. Mit Choleraschutzanzügen wurde versucht, sich vor dem vermeintlichen Miasma zu schützen, bis schmutziges Wasser als eigentliche Ursache entdeckt und behördlich anerkannt war, sollten noch ein paar Jahre vergehen.

Unterm Mikroskop

Dirt zeigt Kurioses wie Erstaunliches. Etwa die Zeichnungen des niederländischen Hobbywissenschafters Antoni van Leeuwenhoek, der im 17. Jahrhundert Bakterien unter dem Mikroskop beobachtete, auf Papier verewigte - und die Tragweite seiner Entdeckung schlichtweg nicht erkannte. Oder aber die fünf saalfüllenden, monumentalen Blöcke, deren schwarzgraues Material Rätsel aufgibt, bis man erfährt, dass sie aus gesammelten menschlichen Exkrementen bestehen, die indische Kanalarbeiter eigenhändig von den Tunnelwänden kratzten, um die Kanalisation freizuhalten. Immerhin - sie riechen nicht mehr.

Natürlich dürfen Nachttöpfe nicht fehlen - und die Deutschen: Das Dresdner Hygiene-Museum rühmt die Ausstellung als Beispiel innovativen Umgangs mit dem Thema Anfang des 20. Jahrhunderts: Binnen sechs Monaten besuchten 1911 fünf Millionen Menschen die erste internationale Hygiene-Ausstellung, 1930 erhielt das Museum sein eigenes Gebäude - "ein Monument der Rationalität und Transparenz in der modernen Medizin", wie Kuratorin Kate Forde sagt. Freilich hielten wenige Jahre später dort die rassenhygienischen Wahnvorstellungen der Nazis Einzug - ein weiterer Aspekt, den die Ausstellungsmacher behandeln.

Geschickt hat die auf den Pharmafabrikanten Henry Wellcome zurückgehende Collection Belehrendes mit innovativer Teilnahme verbunden. Die junge Londoner Künstlerin Serena Korda etwa lädt Ausstellungsbesucher dazu ein, Dreck bei ihr abzuladen.

Im Lauf der Wochen sollen dann Schmutzziegel entstehen - Erinnerung daran, dass der Bauboom im viktorianischen London wie im heutigen China letztlich auf einem Baustoff gründet, den andere für wertlos halten: Schmutz eben. (Sebastian Borger aus London/DER STANDARD, Printausgabe, 27. 4. 2011)