Schnelle und drastische Änderungen in seiner Umwelt ist der Blasentang Fucus vesiculosus eigentlich gewohnt. Trotzdem sind seine Populationen in der Ostsee deutlich geschrumpft. Der Grund könnte in komplexen Wechselwirkungen innerhalb der Ökosysteme zu finden sein, die schon kleinste Veränderungen der Durchschnittswerte zu großen Auswirkungen potenzieren.

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Tiere und Pflanzen in Küstengebieten wie die Bewohner der flachen Ostsee beispielsweise müssen mit stark schwankenden Temperaturen, einem veränderlichen Salzgehalt und sogar mit kurzfristigen Sprüngen des pH-Wertes zurechtkommen. "Diese natürlichen Veränderungen können innerhalb weniger Wochen größer sein, als die in Folge des Klimawandels für die kommenden 100 Jahre vorhergesagten mittleren Verschiebungen", erklärt der Kieler Meeresbiologe Martin Wahl vom Leibniz-Institut für Meereswissenschaften IFM-GEOMAR. Sind die Folgen des Klimawandels für Küstenökosysteme also zu vernachlässigen?

In einer Studie, die jetzt in der Fachzeitschrift "Advances in Marine Biology" erscheint, beantworten Wahl, Inken Kruse und Mark Lenz vom IFM-GEOMAR zusammen mit 14 weiteren europäischen und amerikanischen Autoren diese Frage eindeutig mit "Nein". "Auch kleinste Abweichungen von den Durchschnittswerten in einem Ökosystem können durch ökologische Verstärkung große Folgen haben", sagt Wahl, "in Einzelfällen können verschiedene Stressoren einander aber auch abpuffern."

Stressökologie von Großalgen

Die oft überraschenden Wechselwirkungen zwischen Belastungen durch ungünstige Umweltbedingungen (z.B. Erwärmung) einerseits und durch Fraßfeinde oder Parasiten andererseits, erläutern die beteiligten Experten aus Deutschland, Finnland, den Niederlanden, den USA, aus Portugal und Schweden anhand der Stressökologie von Großalgen. Eine davon, der Blasentang Fucus vesiculosus, kommt an den Küsten der Nord- und Ostsee, aber auch des Atlantiks und des Pazifiks vor. "Dort spielt er in den Ökosystemen des Flachwassers eine Schlüsselrolle", erklärt Wahl. Doch obwohl beispielsweise die Blasentang-Populationen der Ostsee einiges gewohnt sein sollten, hat sich der Bestand des Tangs in den vergangenen Jahrzehnten deutlich reduziert. "Eigentlich kann er in Wassertiefen zwischen null und sechs Metern gut leben. Mittlerweile findet man ihn in der Westlichen Ostsee aber nur noch bis ein oder zwei Meter Wassertiefe", erläutert Wahl.

"Wahre Kaskade an Wirkungen und Wechselwirkungen"

Diese Veränderung kann nicht mit den direkten Effekten des Globalen Wandels, welcher auch Überdüngung und Bioinvasionen einschließt, alleine erklärt werden, schreiben die Forscher. Um sie trotzdem zu verstehen, haben die Autoren der Studie aufbauend auf existierenden Einzelstudien zahlreiche Daten rund um den Blasentang zusammengetragen: Sie haben unter anderem sein Verbreitungsgebiet, seine Licht- und Nährstoffversorgung, Fraßfeinde, seine Abwehrsysteme, seine Reaktionen auf Umweltbelastungen oder auch die genetische Vielfalt einzelner Populationen betrachtet, um "eine wahre Kaskade an Wirkungen und Wechselwirkungen" aufzuzeigen, so Wahl, die auf einzelne Algen oder auf ganze Populationen einwirken.

Ein Beispiel

Bei nur leicht steigenden Durchschnittstemperaturen steigt die Beschattung durch Plankton und Aufwuchs - der Blasentang bekommt also weniger Licht. Das lässt seine Energiereserven schmelzen, was wiederum seine Abwehr gegen Krankheitserreger und Fraßfeinde schwächt - was dadurch verstärkt wird, dass unter höheren Temperaturen das Infektionsrisiko steigt und Fraßfeinde hungriger sind. Reduzieren Fressfeinde die Blattfläche, mit der die Alge Photosynthese betreiben kann, verstärkt sich der Energiemangel weiter - eine typische Verstärkerschleife. "Die Liste der möglichen Verstärkungen und Wechselwirkungen ist lang und komplex", erklärt Professor Wahl. Um sie besser zu verstehen und vermitteln zu können, wird die Stressökologie der Makroalgen zurzeit modelliert.

Schneeballeffekt der Verstärkung nicht erforscht

Die Ergebnisse der Studie sind beispielhaft für Ökosysteme in Küsten- und Schelfmeergebieten der gemäßigten Breiten. "Kaum eine Art wird an einer einzelnen Auswirkung des Klimawandels zugrunde gehen", resümiert Wahl die bisherigen Erkenntnisse, "trotzdem können wir seine Folgen nicht weglächeln." Wahl hofft auf eine veränderte Wahrnehmung, "denn der Schneeballeffekt, den die ökologische Verstärkung hervorrufen kann, ist noch viel zu wenig erforscht."(red)