Lonko Juana Calfunao, Stammesführerin  der Mapuche-Indianer.

Foto: Erhard Stackl/Der Standard
Foto: Erhard Stackl/Der Standard

 

Das Folterregime Augusto Pinochets habe für sie und die ihren nie aufgehört, sagt Juana Calfunao, die mit großer Würde mitten in Österreich die bunte Tracht und den schweren Halsschmuck der chilenische Mapuche-Indianer trägt. Sie hat den Titel „Lonko“ und ist  damit Stammeschefin in einer Mapuche-Gemeinde namens Juan Paillef, circa 800 Kilometer südlich von Santiago.

„Unser Volk hat immer unter einer Diktatur gelebt, seit sich der Staat Chile formiert hat, bis zum heutigen Tage“, klagt sie im Gespräch mit dem Standard. Schon ihre Mutter und dann auch sie selbst und ein großer Teil ihrer Familie seien ins Gefängnis gesperrt worden. Nach Streitigkeiten mit Großgrundbesitzern „hat man drei Mal mein Haus nieder gebrannt, nur weil wir ein gerechtes Leben auf unserem Land wollten“. Über das, was sie als großes Unrecht erfahren hat, berichtete Lonko Calfunao in den vergangenen Tagen bei Vorträgen in Wien und Graz.

Eigentlich sei sie nach Jahren der Haft nur bedingt entlassen worden, um ihre zwölfjährige Tochter Relmutray im Schweizer Exil besuchen zu können. Nach monatelangem Ringen  mit den Behörden habe sie die Erlaubnis bekommen, die in Genf wegen psychischer Probleme in Behandlung befindliche Tochter zu treffen. „Sie ist stark traumatisiert. In Chile hatte man hat ihren Hund getötet und ihre Katze angezündet. Sie musste zusehen, wie man mich vor ihr misshandelt hat. Man hat mir die Zähne eingeschlagen, mich an den Armen und Beinen zu Boden gerissen und auf mich uriniert.“

„Lonkos“ der Mapuche (im historisch „Araukanien“ genannten Süden Chiles)  wie sie seien ein Hauptziel der Sicherheitskräfte, „weil wir Widerstand leisten und uns weigern, unterworfen zu werden“, sagt Frau Calfunao im Interview. Kürzlich hat sie ihre Anschuldigungen gegen den chilenischen Staat, der ihr Volk unter dem Vorwand der Terrorbekämpfung unterdrücke, auch bei einem Hearing in Brüssel erhoben. Mehr als 30 Europaparlamentarier haben sich bei dem von den Grünen und der auf „nicht repräsentierte Völker“ spezialisierte Menschenrechtsorganisation UNPO organisierten Treffen über die Lage der indigenen Bevölkerung Chiles informiert. Mapuche-Vertreter verlangten dort nichts weniger als Sanktionen gegen den Staat Chile, mit dem ein Assoziierungsabkommen besteht. Darin gibt es auch eine Menschenrechtsklausel, die bei dem 2012 geplanten EU-Chile-Gipfel im Zusammenhang mit den Mapuche angesprochen werden sollte, wird von deren Vertretern verlangt. Zusätzlich sollte die EU Beobachter nach Chile entsenden, speziell zu den Strafprozessen gegen Angehörige des Mapuchevolkes, die dort noch immer und entgegen anderslautenden Meldungen, nach dem berüchtigten Antiterrorgesetz (mit geheimen Zeugen, extrem hohen Strafen und doppelten Prozessen vor Militär- und Zivilgerichten) durchgeführt würden.

Was Chiles Regierung sagt – und was sie tut

Diese Anschuldigungen kontrastieren stark mit den Informationen auf Chiles Regierungswebsite http://www.gob.cl/ wo Präsident  Sebastián Piñera unter dem Stichwort „Mapuche“ auf Fotos mit offenbar glücklichen Menschen in Stammestracht bei der Eröffnung einer neuen Schule zu sehen ist.  Für die Entwicklung ihres Siedlungsgebiets, so heißt es in den Meldungen dazu, seien im „Plan Araucanía“ umgerechnet 2,7 Milliarden Euro vorgesehen. Der seit 13 Monaten amtierende chilenische Präsident hatte im Wahlkampf noch „hartes Durchgreifen“ gegen aufmüpfige Mapuche versprochen, deren Gegner, die Unternehmer und Großgrundbesitzer, zu Piñeras Unterstützern zählen. Doch Ende vorigen Jahres änderte der konservative Präsident Chiles seine Linie. Unter dem Eindruck einer Welle von Hungerstreiks unter Mapuche-Häftlingen und der internationalen Kritik an deren Lage, versprach er den Mapuche einen Dialog. Das Antiterrorgesetz sollte nicht mehr so wie bisher angewendet werden.

Doch im März 2011 wurden neuerlich vier Mapuche zu Strafen von 20 bis 25 Jahren Gefängnis verurteilt, wegen eines – fehlgeschlagenen – Attentats auf einen Staatsanwalt, bei dem nicht einmal die Anwesenheit der Angeklagten am Tatort mit Sicherheit nachgewiesen wurde.

„Die chilenische Regierung sagt viel, um in Europa gut dazustehen und Investoren anzulocken“, kommentierte dies Lonko Juana Calfunao im Gespräch mit mir. Die unfairen Gesetze würden noch immer angewendet, „weil die Richter und Staatsanwalte von einem Virus kontaminiert sind, der Rassismus heißt und sich gegen unser Volk richtet.“ Die Mapuche würden aber nicht aufgeben, „bis uns unser Territorium zurückgeben worden ist und unsere Kinder und Enkel darauf in Würde leben können.“ Und: „Der Terrorist ist der Staat, er ist mit Gewalt in unser Territorium eingefallen.“

Die Besitzansprüche der Mapuche basieren auf dem 1641 mit den spanischen Kolonisatoren abgeschlossenen Vertrag von Quillín. Darin wird der Mapuche-Nation, deren Unterwerfung den Spaniern nie gelang, die Souveränität über das Gebiet südlich des Biobío-Flusses zugesprochen. Auch das unabhängige Chile hat  1825 die Souveränität der Mapuche zunächst anerkannt. In einer Vorgangsweise, die an Nordamerika erinnert, wurden die Indianer des Südens in einer von 1861 bis 1883 dauernden „Befriedungsaktion“ gewaltsam unterworfen.

Während der Diktatur General Pinochets (1973-90) war die Lage der Mapuche besonders schlimm; weder ihre Ethnie, noch ihr (Gemein-)Eigentum wurden anerkannt, forstwirtschaftliche Firmen nahmen sich ihr Land.

Etwas besser war es in den ersten Jahren nach der Wende zur parlamentarischen Demokratie. Unter den Mitte-Links-Regierungen kam es zu ersten Landrückgaben. Doch 1997 eskalierte der Konflikt, als einige Holzlastwagen in Brand gesteckt und Wege durch Mapuche-Gebiet blockiert wurden. Die – konservativen – Medien  berichteten von Gewaltausbrüchen und Chaos, worauf die Regierung das Anti-Terrorgesetz Pinochets (und zwar nur gegen Mapuche) reaktivierte.

Strafverteidiger mit Sympathien für diese Minderheit konzedieren, dass „die Proteste nicht immer friedfertig waren“, dass Maschinen oder Häuser nieder gebrannt wurden“. Aber nicht alle Schäden, die den Indigenas zugeschrieben wurden, seien auch von ihnen verursacht worden, sagte der Anwalt Juan Guzmán in einem Interview. Firmenchefs sieht auch Juana Calfunao hinter vielen Bränden stecken. „Wenn ein Lastwagen nicht mehr funktioniert, zünden sie in an, das ist eine Inszenierung. Den Schaden zahlt die Versicherung und beschuldigt werden Mapuche.“ Das seien dann die „terroristischen Brandstiftungen“, die mit hohen Gefängnisstrafen geahndet würden, die auch für wirkliche Täter völlig überhöht seien, während Nicht-Mapuche bei ähnlichen Urteilen mit Geldstrafen davonkämen.

Unterstützung erhalten die Mapuche schon seit Jahren von Organisationen wie Amnesty International. Jüngst gab es eine Petition internationaler Persönlichkeiten, darunter die beiden Friedensnobelpreisträger Rigoberta Menchu und Alfolfo Perez Esquivel und der alternative Rockstar Manu Chao, zu ihren Gunsten. Aber die chilenischen Behörden reagierten nicht darauf, sagt Lonko Calfunao.

Schon bei der offiziellen Feststellung ihrer Stärke könne etwas nicht stimmen: Laut Volkszählung  gehören nur 4,5 Prozent der knapp 17 Millionen Einwohner ethnischen Minderheiten an – das wären 760.000 Menschen. Die Indigenen Chiles hätten aber eine eigene Zählung durchgeführt, bei der sie auf vier Millionen Indigene kamen, Gruppen wie die Aymara im Norden oder die Rapanui auf der Osterinsel, und, mit Abstand am größten, das Mapuche-Volk.

Der chilenische Staat habe auch die Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation unterzeichnet, halte sich aber nicht daran. In dieser Vereinbarung geht es um den Schutz der Rechte indigener Völker und um deren Mitsprache bei der Ausbeutung von Naturschätzen auf ihrem Gebiet. Dementsprechend wollen die – im Vergleich zu Chiles Gesamtbevölkerung besonders armen - Mapuche nun auch von europäischen Investoren verlangen, dass sie in Verhandlungen mit ihnen eintreten, ehe im Süden Chiles Wälder genutzt, Wasserkraftwerke errichtet oder Mineralien abgebaut werden. Bisher hätten europäische Unternehmen aus Investitionen im Mapuche-Gebiet Gewinn gezogen und ihnen "nur den Abfall zurückgelassen", sagt Lonko Juana Calfunao.

Über ihre Proteste in der Öffentlichkeit hinaus befassen die Mapuche nun zunehmend auch internationale Organisationen mit ihren Anliegen.

So hat die Interamerikanische Kommission für Menschenrechte soeben zum ersten Mal in der Geschichte Chiles ein Hearing zugelassen, in dem Nichtregierungsorganisationen die chilenische Polizei beschuldigen, indigene Kinder gefoltert zu haben. Insgesamt wurden 130 Fälle vorgelegt, in denen es um die Misshandlung von Mapuche-Kindern im Alter zwischen wenigen Monaten und 17 Jahren geht. (Zu diesem Thema haben die Lateinamerikaberichterstatter der „Deutschen Welle“ ein Video online gestellt.)

Unter Chiles Akademikern setzen sich ebenfalls einige für die Sache der ethnischen Minderheiten ein. Speziell der Anthropologe und Erforscher der Mapuche-Geschichte José Bengoa ergreift für sie Partei. Die Anwendung des Antiterrorgesetzes in Fällen, wo auf einem Bauernhof ein Benzinkanister herumsteht, nennt er „unerträglich“. Es sei ein großer Fehler, einen sozialen Konflikt zu kriminalisieren. Für das Schüren der Terror-Angst, die zur überharten Regierungspolitik führte,  macht der Wissenschafter die führende  konservative Zeitung „El Mercurio“ sowie einige TV-Stationen verantwortlich.

Für seine Argumentation kann Bengoa seit kurzem unverdächtige, wenn auch unfreiwillige Zeugen benennen: Führende Mitarbeiter der US-Botschaft in Santiago, deren nach Washington übermittelte Berichte zur Mapuche-Problematik via Wikileaks ans Licht kamen.

Darin halten US-Diplomaten fest, dass Sebastián Piñera im Wahlkampf den „Mapuche-Terror“ zu einem Hauptthema gemacht habe, er habe erklärt, dass „Araukanien in Flammen steht“. Die Medien hätten über jeden einzelnen Zwischenfall groß und viel ausführlicher berichtet, „als über viel schwerwiegendere Verbrechen von nicht-indigenen Chilenen“.

Unterstützung für die Mapuche kommt auch aus den christlichen Kirchen, innerhalb Chiles und auch international. In Österreich haben heuer bereits vier christliche NGOs den „Weltgebetstag der Frauen“ der bedrängten Lage der Mapuche gewidmet.

Die Stammesführerin Juana Calfunao, vom Standard um einen Kommentar dazu befragt, hält diese Entwicklung für höchst an der Zeit.

Die Kirchen seien doch „am Anfang von Völkermord, unserer Entwurzelung und des Versuchs der Ausrottung unserer Kultur“ gestanden. „Sie wollten, dass wir an ihren Gott glauben und nicht an das, was wir glauben.“ Die Katholiken und auch die Protestanten hätten einen starken Anteil an der Unterwerfung der Indigenen gehabt. „Jetzt hätten sie die Verpflichtung und auch die Fähigkeit, das Problem zu lösen, an dem sie mitschuldig sind.“