Der wahrscheinlich größte Tragöde des Pop wäre heute, Samstag, 75 Jahre alt: Roy Orbison, den eine kosmische Ungerechtigkeit schon 1988 von uns nahm, im Alter von nur 52 Jahren.

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Wien - Es kann kein Zufall gewesen sein, dass Roy Orbison am offenen Herzen operiert wurde. Da war er gerade 40 Jahre alt und hatte bereits eine Ehefrau und zwei Söhne beerdigt. Gebrochene Herzen waren nicht nur sein Geschäft, sie gehörten zu seinem Leben - für die eigene Pumpe galt da keine Ausnahme.

Während andere Bands und Sänger mit seinen Songs die Charts frequentierten, erholte sich Orbison von einer dreifachen Bypassoperation. Seine Karriere grundelte damals, in den 1970ern, vergleichsweise bescheiden dahin.

Nur Barbara gab ihm Halt, seine zweite Ehefrau nach der bei einem Motorradunfall verunglückten Claudette, die er im gleichnamigen Song verewigt hatte. Sie blieb an seiner Seite, schenkte ihm zwei Söhne und erlebte seine künstlerische Wiederauferstehung - bis zu seinem verfrühten Tod 1988. Der wahrscheinlich größte Tragöde des Pop ging mit nur 52 Jahren vollends in der Tragödie auf.

Geboren wurde Orbison am 23. April 1936 in Vernon, Texas. Heute, Samstag, wäre Roy Kelton Orbison 75 Jahre alt geworden. Wie alle Orbison-Kinder war er stark kurzsichtig und von eher bescheidener Ansehnlichkeit. Sein Lebensweg schien vorgezeichnet, als der seltsame Knabe mit dem hellblonden Haar zum sechsten Geburtstag eine Gitarre geschenkt bekam: Er wollte Musiker werden, Sänger.

Karriere vorglühen

Als Teenager traf er Johnny Cash. Dieser riet ihm, sich an Sam Phillips in den Sun Studios zu wenden, in denen die Karrieren von Cash, Elvis Presley, Jerry Lee Lewis oder Carl Perkins gerade vorglühten. Dort, in Memphis, nahm Orbison seinen ersten Songs auf, Ooby Dooby, der sich rasch über 200.000-mal verkaufte und ihn in eine Reihe mit erwähnten Rock-'n'-Roll-Pionieren stellte.

Richtig in die Gänge kam die Karriere des scheuen, höflichen Mannes mit den nun verwegen schwarz gefärbten Haaren aber erst, als er nach Nashville ging. Für das Label Monument nahm er ab 1960 eine Reihe von Singles auf, die allesamt im Pop-Olymp landeten. Bereits die Titel lesen sich wie Manifeste der Verzweiflung: Only The Lonely, Love Hurts, Crying , Running Scared, It's Over - das waren Melodramen im Drei-Minuten-Format, Albträume in Zuckerwatte, Sehnsucht, in vibrierendes Falsett gehüllt.

Was Orbison da formulierte, war revolutionär. Dem hüftkreisenden Machismo des Rock 'n' Roll begegnete er als verletzte Seele, als verunsichertes Wesen - mit großen Kinderaugen hinter dunklen Brillen, die ihm mit seiner schwarzen Kleidung die Welt auf Distanz hielten.

In einem Nachruf für die Ö3-Musicbox meinte Fritz Ostermayer, das brutalste Wort, zu dem Orbison je fähig gewesen wäre, sei "mercy" gewesen, Gnade. Orbison war ein Gigant des Sanftmuts, ein Fels der Unsicherheit, der fast regungslos auf der Bühne stand und so ungewollt seine mysteriöse Aura unterstrich.

Orbisons Kunst, in Vinyl gepresst, verkaufte sich millionenfach. Damen kollabieren säleweise, Männeraugen wurden geflutet, selbst die Beatles verstummten vor Ehrfurcht. Keiner sehnte intensiver, niemand klang so verletzt und verletzlich wie Roy.

Selbst vermeintlich fröhliche Songs entbehrten nicht ihrer ständigen Begleiter: Da waren immer Zweifel und die Angst vor versagter Anerkennung. In diesen Momenten gurrte Roy wie eine Taube (Oh, Pretty Woman), rollte er sich wie ein Kater (Uptown) oder sah dem Schicksal nüchtern entgegen: Mean Woman Blues.

Hollywood-Intermezzo

Versuche, den Star wie Elvis in Hollywood zu vermarkten, endeten zum Glück nach dem ersten Versuch: In dem Western-Flop The Fastest Guitar Alive hatte Orbison in seiner Gitarre ein Gewehr eingebaut, das schoss, wenn er die siebte Saite zupfte. Mercy.

Erst Mitte der 1980er-Jahre zog Orbisons Karriere wieder an. Der US-Regisseur David Lynch nahm den Orbison-Song In Dreams in seinen Film Blue Velvet, obwohl Roy dessen Verwendung untersagt hatte. Als er den Film dann sah, war er schockiert, da er sein Lied nicht mit dem brutalen, ödipalen Irrsinn in Verbindung bringen konnte, den Dennis Hopper als Frank Booth verkörperte.

Freunde und Verehrer

Doch Orbison versöhnte sich mit dem Film und mit Lynch und nahm mit ihm und T-Bone-Burnett als Produzenten ein Doppelalbum mit alten Hits neu auf - und landete damit erneut in den Charts. Ein anderer Meilenstein seines Spätwerks erschien zu dieser Zeit: das Trennungsepos Wild Hearts Run Out Of Time.

Damals verneigte sich bereits eine nachgeborene Generation vor dem sanften Riesen: Sein legitimer Erbe Chris Isaak, dazu Bruce Springsteen, Bono von U2, K.D. Lang, Elvis Costello, Nick Cave, Tom Waits oder Jackson Browne - sie alle zählten zu seinen Verehrern.

Mit einigen davon gab Orbison 1988 ein Konzert; nachzusehen in dem Konzertfilm Roy Orbison and Friends, A Black and White Night. Nahezu gleichzeitig veröffentlichte eine zufällig zusammengewürfelte Super-Group ihr Debüt: The Traveling Wilburys, das waren Jeff Lynne, George Harrison, Bob Dylan, Tom Petty - und Roy Orbison.

Posthumer Welthit

Doch so fröhlich, wie er als Lefty Wilbury in Not Alone Anymore jubilierte, sollte man ihn nicht wieder hören. Roy Orbison starb am 6. Dezember 1988 im Haus seiner Mutter an einem Herzinfarkt. Im Jahr darauf erschien das noch zu seinen Lebzeiten eingespielte Album Mystery Girl, das das Ausmaß dieses Verlusts unterstrich: Zwar gelang ihm mit dem optimistischen You Got It ein posthumer Welthit, doch es waren Songs wie In The Real World, die ein letztes Mal das Talent Orbisons offenlegten: Keiner beherrschte die Gratwanderung zwischen Schmerz und Kitsch, zwischen Schmalz und Schmelz so wie er.

Das Album endet mit Careless Heart, einer bittersüßen Ballade, bestehend aus Leichtsinn, Missverständnissen, Herzschmerz und Reue. Ein Lied wie ein Testament. (Karl Fluch, DER STANDARD/Printausgabe 23./24./25.4.2011)