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Der Albtraum der rationalistischen Aufklärung ist Charlie Chapli in "Modern Times" (1936), aufgemalt auf eie Schweizer Hausfassade.

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Philipp Blom, geb. 1970 in Hamburg, ist Schriftsteller, Historiker, Journalist (u. a. Ö1) und Übersetzer. Er studierte in Wien und Oxford, hat in London und Paris gearbeitet und lebt heute in Wien. Zuletzt erschien von ihm "Böse Philosophen. Ein Pariser Salon und das vergessene Erbe der Aufklärung" (Hanser, 2011).

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Kants Hausschuhe stehen in Peking, und niemand geht hin. Während die chinesische Regierung einen ihrer wichtigsten Kritiker mundtot macht und verschwinden lässt, zeigt die deutsche Regierung den wenigen Chinesen, die sich in die Aufklärungs-Ausstellung verirrt haben, Bilder einer preußischen Idylle. Wenn dieses Ereignis irgendjemanden aufklärt, dann wohl die Machthaber in Peking - die wissen jetzt nämlich, dass sie nicht einmal mit symbolischen Konsequenzen zu rechnen haben, wenn sie einen Ai Weiwei festnehmen, vor den Augen der Weltöffentlichkeit und fast zeitgleich mit der Eröffnung der Ausstellung, die eigentlich die Menschenrechte feiern soll.

Die Werte der Aufklärung sind nicht immer vereinbar mit gesunden Handelsbilanzen. Sie sind unkommerziell und unbequem, und sie werden mit erstaunlicher Geschwindigkeit erodiert. In Großbritannien erhalten Universitäten unter der neuen, konservativ-liberalen Regierung keinerlei Finanzierung für geisteswissenschaftliche Fächer mehr, denn, so erklärte mir ein Wirtschaftswissenschafter, der Mitte zwanzig war, sie steigern die Produktivität nicht. Gleichzeitig steigen die Studiengebühren auf mehr als 10.000 Euro pro Jahr. Diese Maßnahmen der Regierung Cameron scheinen der effektivste Weg, das Abendland als gesellschaftliches Projekt fallenzulassen und durch ein endloses Shoppingcenter zu ersetzen, durch die Postdemokratie, die systematische Belustigung gieriger Ameisen.

Überall bröckelt das Bewusstsein der Aufklärung, die eine moderne Gesellschaft überhaupt erst möglich gemacht hat, mit allen Schattenseiten, aber auch mit dem Rekurs auf die Vernunft, Menschenrechten, individuellen Freiheiten, Gleichberechtigung, Toleranz - Fiktionen vielleicht, aber nützliche, die Denkräume auftun.

Tatsächlich aber geht es immer stärker darum, Denkräume wieder zuzunageln. Wo würde man ein klares Bekenntnis zu den Idealen der Aufklärung erwarten? Sicherlich in einem Gerichtssaal. Tatsächlich aber hängen nicht nur in österreichischen, sondern auch in deutschen und anderen europäischen Gerichtssälen noch oft Kruzifixe. Als 2010 beim Tierschützerprozess in Wiener Neustadt einer der Angeklagten forderte, das Kruzifix aus dem Gerichtssaal zu entfernen, weigerte sich die Richterin mit der Begründung, das Zeichen stehe "nur für eine symbolhaft verkörperte Idee." Die Frau Richterin wird wohl die Nächstenliebe gemeint haben.

Aus der Mode gekommene Werte

Tatsächlich steht das Kreuz auch für Werte, die für das Selbstverständnis der Gesellschaft, die hier Recht sprechen will, zutiefst verstörend sind. Abtreibung, Homosexualität, Verhütung und mehr werden im Namen dieses Symbols verdammt. Es steht für die systematische Missachtung von Frauen, für Körperfeindlichkeit und für eine positive Bewertung des Leidens als Reinigung der Seele. Und auch von seinen historischen Assoziationen kann das Kruzifix, sicherlich in den Augen von Nichtchristen, nie ganz gereinigt werden: die Verfolgung von Andersgläubigen, Hexenverbrennungen, Kreuzzüge, die kompromittierende Nähe zu brutalen Machthabern, die zynischen Predigten gegen den Gebrauch von Kondomen in Aids-betroffenen Ländern Afrikas.

All dies ist da präsent, wo ein Kruzifix hängt. Nichts von alledem hat etwas an einem Ort zu suchen, an dem eine tolerante, aufgeklärte Gesellschaft Streit schlichtet und Verbrechen ahndet. In einem Gerichtssaal wird, zumindest dem eigenen Anspruch nach, nach anderen Rechtsnormen und moralischen Kriterien verhandelt, nach dem Selbstverständnis einer säkularen und aufgeklärten Demokratie.

Argumente wie diese klingen nur dort überzogen, wo der universalistische Anspruch der Aufklärung entweder nie angekommen ist oder längst verworfen wurde. Tatsächlich ist die Aufklärung in intellektuellen Zirkeln aus der Mode gekommen und durch frei ineinander schwimmende Diskurse ersetzt worden, von denen die meisten das Präfix "post-" tragen, sei es demokratisch, kolonialistisch, imperialistisch, feministisch, strukturalistisch, modern, etc. Es drängt sich der Eindruck auf, dass wir nicht so sehr in wie nach einer historischen Periode leben, als würden wir uns längst selbst resigniert als Postskriptum des Abendlandes betrachten.

Der Bruch mit der Aufklärung kam scheinbar mit Horkheimer und Adorno, mit Dialektik der Aufklärung und der Entstehung von "Auschwitz" als kulturelle Trope, die jeden Glauben an Humanismus und Vernunft im Keim ersticken muss, weil auch im kultivierten Deutschland ein Menschheitsverbrechen möglich gewesen war.

Wenn KZ-Kommandanten Bach spielen und Kant lesen, dann sind die Werte der Aufklärung zertrümmert. Horkheimer und Adorno waren selbst enttäuschte Liebhaber, Produkte eines bourgeoisen, assimilierten Judentums, das seine Heimat bei Goethe, Schiller und Beethoven gesucht hatte. Ihre Kritik an der Vernunftgläubigkeit und der rationalisierten Gesellschaft hat aber ihre Gültigkeit behalten. Der Albtraum der rationalistischen Aufklärung ist Charlie Chaplin in Modern Times, ein Mensch, dessen letzte Sekunde verplant ist und der im plankonformen Moloch der Maschine ganz verschwindet.

Wir haben uns zurückgezogen von dieser Aufklärung, die keine automatische Seligkeit garantiert. Unversehens sind unsere kulturellen Instinkte in längst eingegrabene theologische Bahnen zurückgesprungen. Dabei geht es, auch in Europa, nicht um den Vormarsch des Kreationismus oder um Sekten auf Seelenfang: Das religiöse Denken hat nur sein Vokabular verändert. Wir erwarten nicht mehr, am Jüngsten Tag körperlich aufzuerstehen, aber der bloße Name Fukushima jagt uns einen wohlig endzeitlichen Schauer über den Rücken, Apokalypse und Paradies sind noch immer die Kategorien, in denen wir unsere kollektive Zukunft träumen.

Sogar gläubige Katholiken lassen sich Entscheidungen über ihr Sexualleben nicht mehr von der Kirche diktieren (sonst hätten sie mehr Kinder), aber unser christlicher Körperhass ist allgegenwärtig in Hollywood-Filmen, in denen man keinen nackten, wohl aber einen gefolterten Körper sehen darf. Wir haben die Heiligenstatuen durch Models ersetzt, und anstatt zu fasten machen wir Diät, während die Erbsünde als Schuldgeflecht innerhalb der Familie noch immer einen zentralen Ort in unserem Leben hat. Die göttliche Vorsehung und ihre laizistische Schwester bei Hegel sind durch den Glauben an den Markt als objektive Macht der Geschichte ersetzt worden. Wir denken in tief religiösen Strukturen, ohne es auch nur zu merken. Die Denkräume der Aufklärung sind noch immer zugenagelt.

Wie die Denkräume aussehen könnten, zeigen Denker, die fast völlig in der historischen Versenkung verschwunden sind. Es sind die radikalen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, deren sensualistische, antireligiöse Weltsicht davon ausging, dass Menschen als eine erfolgreiche Tierart Trost und so etwas wie Erfüllung finden kann, indem sie lustvoll, planvoll und solidarisch leben. Der Ort, an dem diese intellektuelle Explosion stattfand, war ein Salon im vorrevolutionären Paris. Der Hausherr, Paul Thiry d'Holbach, war der erste weithin (wenn auch pseudonym) gelesene atheistische Autor seit der Antike, David Hume war ein enger Freund, der regelmäßigste Gast bei Tisch war Denis Diderot, dessen durch und durch moralisches Denken die Wollust sowohl zur Grundlage als auch zum Ziel nahm.

Anstatt sich für das Potenzial der radikalen Aufklärung zu öffnen, zog es das neunzehnte Jahrhundert vor, eine gemäßigte, leicht verdauliche Version des Enlightenment zu akzeptieren, die universelle Werte bot, ohne die intellektuellen Instinkte einer christlich geprägten Kultur zu destabilisieren. Hier liegt eine Chance, denn heute ist Europa längst keine christliche Kultur mehr. Seine Werte und in zunehmendem Maße auch seine Bevölkerung sind breiter gefächert und machen eine neue Aushandlung von Gemeinsamkeiten nötig, um wirklich integrative Gesellschaften möglich zu machen.

Gerade in dieser Zeit kollektiver Aufklärungsvergessenheit ist es nötiger denn je, die Diskussionen und Denkmöglichkeiten der Aufklärung wiederzubeleben, um eine gemeinsame Sprache zu entwickeln. Vielleicht ist es im Zuge dieser Diskussionen möglich, die kulturellen Instinkte eines neuen Abendlandes auf eine nicht mehr christlich geprägte humanistische Basis zu stellen. In Österreich wird die Wichtigkeit einer integrativen Gesellschaft von der Regierung symbolisch unterstrichen: Sebastian Kurz, der neue Staatssekretär für Integration, ist 24 Jahre alt und Student. Noch vor einem Jahr fuhr er mit seinem "Geilomobil" unschuldig durch Wien. Auch so kann das Postskriptum des Abendlandes aussehen. (Philipp Blom, DER STANDARD/Printausgabe 23./24./25.4.2011)