Ein kariertes Etwas aus einer anderen Welt: Hinter dem neuen "Metropol Parasol" des Berliner Architekten Jürgen Mayer H. verbirgt sich eine PU-beschichtete Holzkonstruktion.

Fotos: David Franck

Auf der schattigen Terrasse unter den Pilzen werden demnächst kleine Bars errichtet. Im Erdgeschoß darunter liegt die neue Markthalle.

Fotos: David Franck

Der Plastikchristus sieht müde aus. Über ihm wackeln die Zweige eines abgesägten Olivenbäumchens. Im Hintergrund weint Maria viele, viele Tränen aus Pappmaché. Und überall Kandelaber, Kandelaber, Kandelaber.

Sevilla ist im Ausnahmezustand. In der Karwoche verwandelt sich die Hauptstadt Andalusiens in eine Bühne für leidenschaftliche Passionsspiele. Tausende sogenannter Nazarenos marschieren durch die Innenstadt, eingehüllt in spitz zulaufende Maskenhüte aus Samt, und tragen schwere, schwarze Kreuze auf den Schultern.

Am späten Nachmittag, gegen 15.30 Uhr, erreicht der religiöse Konvoi die Plaza de la Encarnación. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Während sich über den Platz der ganze Pathos römisch-katholischen Glaubens ergießt (Weihrauch überall), ragen darüber sechs überdimensionale narrische Schwammerln in den Himmel. Metropol Parasol nennt sich das futuristische Gebilde, das in rund 30 Metern Höhe schwerelos zwischen den Häusern wabert.

Carmen sitzt im Straßencafé, blickt gebannt auf die vorbeiziehenden Nazarenos und schiebt sich Oliven und Anchovis in den Mund. "Ich mag die Aussicht. Der Umzug ist dieses Jahr wieder ziemlich gelungen, aber die Parasole dahinter sind der Wahnsinn." Den Nachnamen und das Alter will die rund 70-jährige, rüstige Dame nicht verraten. "Was glauben Sie denn! Wenn meine Freundinnen und Bekannten lesen, dass mir die neue Platzgestaltung gefällt, dann werde ich noch an sozialer Vereinsamung zugrunde gehen!" Zwei Oliven später: "Ja, ja, die neuen Parasole ... Man liebt sie oder man hasst sie. Ich liebe sie."

Entstanden ist die Idee zur Neugestaltung der Plaza de la Encarnación bereits in den Achtzigerjahren. Die alte, heruntergekommene Markthalle aus dem Jahr 1842 war längst abgerissen und sollte durch einen Neubau ersetzt werden. Geplant war ein voluminöses Investorenprojekt mit Garage und Büros. Eines Tages wurden zu allem Überdruss die Marktstände aus den Plänen ausradiert. Die Bevölkerung tobte.

Als man in den Neunzigerjahren im Zuge der Fundamentarbeiten plötzlich auf ungeahnte archäologische Funde aus der Römerzeit stieß, war das für die Stadtregierung die Chance, ihren Fehler rückgängig zu machen und das unappetitliche Megaprojekt zu stoppen. 2003 wurde ein internationaler Wettbewerb ausgeschrieben. Bürgermeister Alfredo Sánchez Moteseirín wünschte sich eine moderne Markthalle und ein zeitgenössisches Wahrzeichen für die ganze Stadt.

Holzpilze aus einem Guss

Unter den rund 800 Teilnehmern ging Jürgen Mayer H. als Sieger hervor. Der Berliner Architekt nahm die Ausschreibung sehr wörtlich und entwickelte mit seinem Team eine organische Struktur, die sich in geschwungenen Linien nach oben entwickelt und zu einem 5000 Quadratmeter großen Dach zusammenwächst. Um das Ding nicht nur leichter, sondern auch baubar zu machen, wurde die gesamte Struktur in 1,50 mal 1,50 Meter große Pixel aufgelöst.

Die größte Überraschung ist das Material. Entgegen ihrer Anmutung sind die karierten Pilze zum überwiegenden Teil nämlich nicht aus Stahl, sondern aus Holz. Rund 3000 Kubikmeter finnischer Fichte wurden in den sechs Strünken und Dächern verbaut. Anschließend wurden die Bauelemente mit einer Schicht aus cremefarbenem Polyurethan (PU) überzogen. Das monochrome PU dient nicht nur dem Witterungsschutz, sondern auch der Optik: Metropol Parasol wirkt wie aus einem Guss.

"Holz ist für uns ein praktischer Werkstoff mit vielen Vorteilen, nicht mehr und nicht weniger", erklärt Projektleiter Andre Santer im Gespräch mit dem Standard. "Wir glauben nicht, dass man den Baustoff um jeden Preis in den Vordergrund rücken muss. Das ist ein Denken, wie es in der Moderne vorgeherrscht hat. Doch die Moderne ist lange vorbei."

Viel wichtiger war es, die Skulptur und den dadurch neu entstandenen Stadtraum zu inszenieren. "Ganz ehrlich: Wir sind mit vielen Details, wie sie von der spanischen Baufirma ausgeführt wurden, sehr unzufrieden", meint Santer. "Aber wir haben erkannt, dass es bei diesem Projekt nicht nur um Architektur geht. Wir reden hier von anderen Maßstäben. Hier geht es vor allem um neue Chancen für die Bevölkerung."

Und die ist mit dem schattigen Schwammerl-Ensemble mehr als zufrieden. "Wissen Sie, Sevilla ist eine tolle Stadt, aber es gibt hier nicht viel Platz für Neues", sagt Antonia Gonzales, Metzgerin im neuen Markt im Erdgeschoß, Stand 28. "Endlich gibt es ein Projekt, das das historische Stadtviertel nicht nur für Touristen interessant macht, sondern auch wieder für uns Einheimische. Und glauben Sie mir! Das Leben auf der Plaza de la Encarnación hat sich in den letzten Wochen dramatisch verändert."

Und der Obst- und Gemüsehändler Domingo Alcantarilla, Stand 22, meint: "Die Neugestaltung der Plaza de la Encarnación war ein jahrzehntelanges Politikum. Ewig lang wurde diskutiert und gestritten. Und dann sieht so der Kompromiss aus? Was will man mehr!" - Ein paar Erdbeeren auf die Waage. - "Aber ich kann nachvollziehen, dass die Parasole nicht allen gefallen."

Demokratie in 30 Meter Höhe

Immer noch marschieren Bauarbeiter über den Platz. Während in der Markthalle und auf der darüberliegenden Plaza bereits reges Treiben herrscht, sind die Innenräume noch weitestgehend Baustelle. Die Baufirma Sacyr, die das Projekt die nächsten 40 Jahre betreiben wird, wirbt mit viel versprechenden Slogans: "A la altura de Sevilla" und "Una nueva forma de ver Sevilla" ist auf den Glasscheiben zu lesen. Nach Auskunft der Architekten ist ein Großteil der Geschäftslokale bereits vermietet. In wenigen Wochen wird eröffnet.

Das gilt auch für das archäologische Museum "Antiquarium" und für das Restaurant in 30 Meter Höhe. Während man sich zum Studium der Antike in ein gläsernes Labyrinth ins Untergeschoß begibt, lockt der 400 Meter lange Skywalk auf dem Dach mit einem Rundumblick auf die ganze Stadt. Ursprünglich sollte hier ein Gourmet-Restaurant entstehen. Nun wird daraus eine riesige Tapas-Bar für Normalsterbliche. Auch das ist eine Form der Demokratie.

Rund 95 Millionen Euro ließen sich Baufirma und Stadtverwaltung den Spaß kosten. Ein Patzen Geld für so viele quadratische Löcher. "Das Projekt zieht Leute an, das Geschäft läuft wunderbar", sagt José Guillén, der im Metropol Parasol eine kleine Bar betreibt. Künftig soll es noch mehr davon geben. "Die letzten 30 Jahre war dieser Platz ein Schandfleck im Herzen Sevillas. Endlich ist wieder was los."

Kreuz auf die Schultern, Kapuze auf den Kopf, und weiter geht die Prozession. Die Regionalzeitung El Correo de Andalucía veröffentlichte am Dienstag eine Karikatur. Sie zeigt ein paar Nazarenos, eingewickelt in historische Roben, im Hintergrund ein kariertes Etwas aus einer anderen Welt. Die Zeichnung ist nicht besonders schmeichelnd. Doch sie beweist, dass in Sevilla die zeitgenössische Architektur wieder auferstanden ist. Ein Impuls für viele andere Städte. Der Rest ist Geschmackssache. (Wojciech Czaja, DER STANDARD/Printausgabe 23./24./25.4.2011)