Hüseyins sechsjähriger Enkel Cenk, der einen türkischstämmigen Vater und eine deutsche Mutter hat, fragt sich: "Sind wir jetzt Türken oder Deutsche?"

Foto: Concorde Filmverleih

"Almanya" erzählt auch von den Anfängen der Gastarbeitergeschichte.

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Mit der Geschichte der Familie Yilmaz werden Menschen aus der anonymen Masse der ZuwandererInnen hervorgehoben.

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Diese Worte aus dem Mund eines deutschen Beamten lassen Hüseyin Yilmaz am Tag vor der Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft panisch aus dem Schlaf fahren. Während seine Frau Fatma es kaum erwarten kann, nach 40 Jahren in Deutschland endlich auch offiziell deutsche Staatsbürgerin zu werden, steht Hüseyin der amtlich vollzogenen und durch den deutschen Pass symbolisierten Einbürgerung etwas skeptischer gegenüber. Weitaus enthusiastischer ist er, als er im Rahmen eines Familientreffens eine "große Neuigkeit" bekanntgibt: Er habe ein Haus in der Türkei gekauft und möchte mit der gesamten Familie in die alte Heimat fahren, lässt er die verblüfften Anwesenden wissen.

"Man kann nicht beides sein!"

Nach anfänglichem Zögern willigen zwar alle Familienmitglieder ein, aber einzig Hüseyins sechsjähriger Enkel Cenk, der einen türkischstämmigen Vater und eine deutsche Mutter hat, scheint sich tatsächlich auf die Reise zu freuen. Er, der beim Fußballspiel in der Schule weder in die deutsche, noch in die türkische Mannschaft gewählt wurde, erhofft sich wohl durch die Reise eine Antwort auf seine Frage "Sind wir jetzt Türken oder Deutsche?" zu finden. Denn, so seine bestimmt hervorgebrachte Überzeugung: "Man kann nicht beides sein!"

Es war einmal ...

In Rückblenden erzählt Canan, Cenks Cousine, dem kleinen Cousin die Familiengeschichte: "Es war einmal ein junger Mann und der hieß Opa", beginnt sie und das formelhafte "Es war einmal" deutet auf den teilweise märchenhaften Charakter ihrer Erzählung hin. Während Scheherazade dem König tausendundeine Nacht lang Geschichten erzählt und so ihre Hinrichtung verhindert, zeichnet Canan in ihren Erzählungen das "klassische Gastarbeiterschicksal" ihres Großvaters, der als 1.000.001 Gastarbeiter nach Deutschland kam, nach.

... in Almanya

Mit viel Humor aber auch mit nachdenklich stimmenden Szenen wird die erste Zeit, die die Familie Yilmaz in "Almanya" verbringt, gezeigt. Eine Zeit, in der die Kinder der Familie sich über die Deutschen, die mit "großen Ratten, die an Seilen hängen", spazieren gehen, wundern und sich vor dem am Kreuz hängenden, blutüberströmten Mann, den die Deutschen anbeten und dessen Fleisch und Blut sie jeden Sonntag in der Kirche essen bzw. trinken, fürchten. Eine Zeit, in der die Kinder das Weihnachtsfest für sich entdecken und maßlos enttäuscht sind, dass die Eltern es nicht richtig zu feiern wissen.

"Jibberisch"

Eine Zeit, die aber vor allem auch von Sprachschwierigkeiten geprägt ist: So werden etwa die Kinder ohne ein Wort Deutsch zu sprechen eingeschult und Fatma muss schon am zweiten Tag in Deutschland den Familieneinkauf erledigen - große Verständigungsschwierigkeiten inklusive. Um den Effekt zu erreichen, "dass sich der deutsche Zuschauer genauso fremd und irritiert mit einer neuen Sprache auseinander setzen muss, wie unsere türkische Familie", legt Regisseurin Yasemin Samdereli den Deutschen im Film dabei eine von Charlie Chaplins Der große Diktator inspirierte Fantasiesprache, "Jibberisch", in den Mund.

Zuspitzung

Die zweite Erzählebene des Films spielt in der Gegenwart und begleitet die Familie auf ihrer Reise in die "alte Heimat", nach Anatolien. Die zentralen, im Film verhandelten Fragen nach Heimat, Zugehörigkeit und Identität spitzen sich zu, als die Reise eine völlig unerwartete Wendung nimmt: Hüseyin Yilmaz stirbt und dem Verstorbenen soll, da er jetzt offiziell deutscher Staatsbürger ist, ein Begräbnis auf dem muslimischen Friedhof seines Heimatdorfes verwehrt werden. Und das von ihm gekaufte Haus hält für seine Familie noch eine Überraschung bereit.

Man kann beides sein

So groß und existentiell die Fragen, die im Film aufgeworfen werden, auch sein mögen, so banal scheint deren Beantwortung am Ende zu sein: Wenn der kleine Cenk an Stelle des verstorbenen Großvaters anlässlich der Ehrung des 1.000.001 Gastarbeiters durch die Bundeskanzlerin Angela Merkel bei einem großen Festakt vor Publikum spricht, versinnbildlicht der Sechsjährige jene Generation, die offenbar beides sein kann: Türkisch und Deutsch zugleich.

"Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen"

Yasemin Samdereli (Regie) und Nesrin Samdereli (Drehbuch) erzählen in "Almanya - Willkommen in Deutschland" ein Stück Migrationsgeschichte aus der Perspektive zugewanderter Menschen und deren Nachkommen. Die so entstehende Perspektivumkehr ist eine der großen Stärken des Filmes. "Wir riefen Arbeitskräfte, es kamen Menschen", kann Max Frischs vielzitierter Ausspruch im Abspann des Films gelesen werden. Mit der Familie Yilmaz werden einige dieser Menschen aus der Masse der ZuwandererInnen hervorgehoben und nicht als anonyme Arbeitskräfte, sondern als Menschen in all ihren unterschiedlichen Facetten gezeigt. Sehenswert! (Meri Disoski, 22. April 2011, daStandard.at)