Es liegt auf der Hand: Mithilfe von elektromagnetischen Wellen können Forscher durch Wände sehen und anhand der Fingerabdrücke nicht sichtbare Personen identifizieren. Sicherheitsforschung liegt in der Türkei im Trend.

Fotos: MAM

Vögel zwitschern in den blühenden Bäumen, eine leichte Meeresbrise weht über Sportplätze und Wiesen. Die Laborgebäude mit ihrem blassgrünen Anstrich verschwinden fast in der parkähnlichen Umgebung. Wie eine üppige Oase liegt der mehr als 3200 Hektar umfassende Campus des Marmara Research Centers (MAM) über dem Marmarameer - just an der Stelle, an der Feldherr Hannibal Selbstmord beging, um den Römern zu entkommen. Sein Grab liegt unweit des Haupteingangs. Abgesehen von einer abgezäunten Militärzone ist das weitläufige Gelände die einzige Grünfläche in Gezbe, einer dichtbesiedelten Industriestadt östlich von Istanbul, deren Plattenbauten übergangslos in die 15-Millionen-Stadt am Bosporus übergehen.

Rund 800 Forscher arbeiten im größten Forschungszentrum der Türkei. In sieben Instituten wird Grundlagen- und angewandte Forschung in den Bereichen Chemie, Umwelt, Energie, Materialwissenschaften, Lebensmitteltechnologie, Biotech sowie Erd- und Meereskunde betrieben. Die bestens ausgestatteten Laboratorien spielen alle Stückerln - wovon sich eine Delegation des Forschungs- Dachverbands Austrian Cooperative Research (ACR) bei einem Besuch überzeugen konnte.

Das Food Institute etwa erforscht die gesamte Kette "vom Feld bis auf den Teller", wie Institutsleiter Ibrahim Özdemir erklärt, während er durch lange Gänge führt, die noch den Flair der frühen 70er-Jahre atmen, der Gründungszeit des MAM. Links und rechts liegt ein Hightech-Labor neben dem anderen: eines für sensorische Analyse; Räume, in denen bei hohen Temperaturen getestet wird, ob Alu-, Plastik- und Kartonverpackungen im Kontakt mit Lebensmitteln chemische Substanzen abgeben; Apparaturen, die für den Export bestimmtes Obst und Gemüse auf Pestizide untersuchen; Labors für Nussverarbeitung, Getreide und fermentierte Lebensmittel, wo Schafskäse, Oliven, Ayran oder Bosa, ein traditionelles, leicht vergorenes Getreidegetränk, unter die Lupe genommen werden.

Olivenforschung

Aktuell arbeiten Forscher daran, mithilfe von Mikroorganismen die lange Fermentationszeit von Oliven zu verkürzen, damit sie schneller schwarz werden. Zugleich soll der Salzgehalt verringert und die Oberfläche noch samtiger werden. Dieselbe Forschergruppe entwickelt Bio-Kunststoffe aus Sojabohnen und aus Material, das Bakterien absondern, wenn sie mit Abfällen und Essensresten gefüttert werden.

An Equipment mangelt es im Marmara Research Center nicht, und auch nicht an den nötigen Mitteln, wie Mehmet Demirel, Vizepräsident des MAM, einräumt: "Wenn wir Geld brauchen und gute Argumente haben, bekommen wir es auch." Schließlich ist es erklärtes Ziel von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, in Sachen Forschung und Entwicklung aufzuschließen und so die Türkei weltweit konkurrenzfähig zu machen.

Erdogan ist auch Vorsitzender von Tübitak, des 1963 gegründeten Rates für Wissenschaft, Technologie und Forschung der Türkei, der die gesamte Forschungs- und Entwicklungsarbeit des Landes lenkt. Ihm sind auch die wichtigsten Forschungsinstitute, wie auch das MAM, direkt unterstellt. Das Tübitak ist Förderagentur für Universitäten, den privaten und öffentlichen Sektor, Beratungsgremium für die Regierung und Forschungsinstitution unter einem Dach.

Fest steht, dass die Türkei in den letzten Jahren in Sachen Forschung und Technologie beachtlich aufgeholt hat. Der Anteil der Forschungsausgaben am BIP hat sich von 0,37 Prozent im Jahr 1998 auf 0, 85 Prozent im Jahr 2009 mehr als verdoppelt. Bis 2013 ist eine Forschungsquote von zwei Prozent angestrebt. Auffällig ist auch, dass sich die Anzahl der wissenschaftlichen Publikationen zwischen 1998 und 2009 auf mehr als 25.000 vervierfachte.

Insgesamt hat die Türkei 2009 rund neun Milliarden Dollar (kaufkraftbereinigt) für Forschung und Entwicklung ausgegeben, wobei 47 Prozent vom Hochschulsektor - der großteils privat geführt ist - kommt, etwa 40 Prozent von der Wirtschaft und 13 Prozent vom Staat. Der Frauenanteil in F&E liegt bei etwa 30 Prozent. Zum Vergleich: In Österreich sind rund 20 Prozent der Wissenschafter weiblich. Die Forschungsquote beträgt derzeit 2,79 Prozent des BIPs.

EU-Kooperationen

Rund 220 Forschungsprojekte wickelt das Marmara Research Center jährlich ab, sowohl im Auftrag von Unternehmen als auch von staatlichen Stellen. Kooperiert wird mit Unis, aber auch zunehmend mit EU-Partnern. 39 Projekte, die aus dem EU-Forschungsrahmenprogramm gefördert werden, laufen allein im Jahr 2011 am MAM - Tendenz steigend, zögerliche EU-Beitrittsverhandlungen hin oder her.

Energie, Lebensmittel, Wasserversorgung und Sicherheitstechnologien: Darin sieht Mehmet Demirel vom MAM das größte Potenzial für türkische Forschungseinrichtungen. Immerhin zehn Prozent der Projekte am MAM sind vom Militär beauftragt. Auf Sicherheitstechnologien, die auf elektromagnetischen Wellen basieren, ist das "International Laboratory for High Technologies" spezialisiert. In einer großen Experimentierhalle auf dem Gelände des MAM arbeiten Forscher in einer türkisch-ukrainische Kooperation daran, Unsichtbares sichtbar zu machen.

Mikro- und Radarwellen sorgen in Kombination mit der entsprechenden Software dafür, dass Fingerabdrücke durch Barrieren hindurch gescannt, gefälschte Banknoten und Pistolen in Taschen identifiziert und Menschen, die sich bis zu drei Meter unter der Erde befinden, abgebildet werden können, wie Institutsleiter Alexey Vertii anhand eines eigens durch die Halle gegrabenen Tunnels demonstriert.

Die ACR-Delegation zeigte sich beeindruckt ob der Ambitionen der türkischen Kollegen - und konnte durchaus Anknüpfungspunkte für künftige Kooperationen finden. Wie gut die starke Hand des Staates der internationalen Öffnung tut, wird sich weisen. (Karin Krichmayr aus Istanbul, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 20. April 2011)