Die klassische Musik wurde in Dur- und Molltonalitäten komponiert. Auch beim Pop ist das nicht anders: Ohne Dur und Moll wären Frank Sinatra, die Rolling Stones und Christina Stürmer erfolglos gewesen. Seit Jahrhunderten rätseln Experten darüber, wie diese Tonalitäten entstanden sind und was sie so beliebt macht. In einem aktuellen Beitrag in der amerikanischen Fachzeitschrift Music Perception präsentiert ein Grazer Musikwissenschafter nun eine mögliche Antwort: Laut Richard Parncutt erklären "fehlende Grundtöne" weitgehend die Struktur der Dur- und Moll-Tonleitern sowie die häufigsten Akkordfolgen im Dur-Moll-System.

"Die Grundtöne, die wir im Alltag hören, sind oft virtuell", erläutert der Forscher. "Ein stimmhafter Laut oder ein musikalischer Ton kann wahrgenommen werden, auch wenn dessen Grundton - das ist die Grundfrequenz, die der wahrgenommenen Tonhöhe entspricht - gänzlich fehlt oder durch Hintergrundgeräusche unhörbar ist." Jeder musikalische Akkord enthält solche "fehlenden Grundtöne". Ein A-Moll-Akkord beispielsweise besteht aus den Tönen A, C und E, man hört aber auch die "fehlenden Grundtöne" D und F mit.

Nicht vorhanden und doch gehört

Das heißt: D und F sind zwar real nicht vorhanden, werden aber dennoch - wenn auch nicht bewusst - wahrgenommen. Das Gehirn fügt sie gewissermaßen hinzu, da A, C und E harmonische Obertöne von D sind, A und C wiederum auch harmonische Obertöne von F.

Nach einem Modell des Münchner Psychoakustikers Ernst Terhardt aus den 1980er-Jahren lassen sich diese "virtuelle Tonhöhen" für jeden beliebigen Klang systematisch vorhersagen. Die psychologische Realität dieser Tonhöhen und die Gültigkeit seines Modells wurden mehrfach in psychoakustischen Experimenten nachgewiesen.

Parncutt findet hier neue, vielversprechende Antworten auf alte Fragen der Musiktheorie. Sie können erklären, warum die Dur- und Moll-Dreiklänge die häufigsten Klänge der abendländischen tonalen Musik sind, warum die Stufen der Dur- und Moll-Tonleitern als unterschiedlich stabil wahrgenommen werden und warum bestimmte Akkordfolgen häufiger vorkommen als andere. Der Wissenschafter sieht im "fehlenden Grundton" die Möglichkeit, eine neue, wahrnehmungsorientierte Musiktheorie aufzubauen, mit interessanten Anwendungen in der Musikanalyse und der Komposition. (red)