Nur äußerlich ein harmonisches Picknick: Joanna Hogg führt in "Archipelago" ins Innere einer dysfunktionalen Familie.

Foto: Cr. Europe

Linz - Ein Familienurlaub sollte es endlich wieder einmal werden, auf den vom Golfstrom verwöhnten Scilly-Inseln bei Cornwall. In dem Steinhaus am Meer haben die Geschwister Edward (Tom Hiddleston) und Cynthia (Lydia Leonard) schon ihre Kindheit verbracht. Nun hat man extra auf jeden Anhang verzichtet - eine eigens engagierte Köchin sowie ein Landschaftsmaler sind die einzigen Außenstehenden hier -, aber das gemeinschaftliche Miteinander mag nicht gelingen. Zunächst sind es nur verbale Sticheleien, die die Harmonie stören, dann gerät man zunehmend heftiger aneinander; der Familienvater taucht überhaupt nie auf.

Archipelago, der zweite Spielfilm der Britin Joanna Hogg, ist die Studie einer großbürgerlichen Familie, die scheinbar nur noch durch Konventionen zusammengehalten wird. Das mag in der immer noch akuten Klassengesellschaft Englands ein gängiger Topos sein, im Kino ist dieser jedoch zumeist auf das Genre des Kostümfilms beschränkt, wo es in der Regel um einiges wohltemperierter zugeht. Hoggs präzise Mise-en-scène, die gerne auf Figurenensembles fokussiert ist, schält in längeren Einstellungen allerdings ein zeitgenössisches Unbehagen heraus, das sich hinter guten Manieren und idyllischen Landschaften versteckt hält.

Schon Unrelated, Hoggs erster Spielfilm, war bei Crossing Europe zu sehen. Nicht nur deshalb eignet sie sich als Beispiel für die Programmatik des Linzer Festivals, das über Arthouse-Mainstream großzügig hinauszielt und auf ein persönliches, widerspruchsvolleres Kino ausgerichtet ist. Interessanterweise ergeben sich aus dieser Vorliebe wieder thematische Zusammenhänge: So fiel in gleich mehreren Filmen ein Interesse für bürgerliche Lebenswelten auf, in denen sich eine Unbehaustheit, eine Leere breitmachen, die ihre Wurzeln in keiner so leicht zuordenbaren ökonomischen Realität haben.

Ein Paar aus Beiläufigkeit

Neben den feinfühlig austarierten Entfremdungsdramen der Niederländerin Nanouk Leopold (der Standard berichtete) war etwa auch Glückliche Fügung der Deutschen Isabelle Stever zu sehen, der von einer Familiengründung erzählt, die von Anfang unter dem Verdacht steht, dass keiner so recht an sie glauben will. Simone (Annika Kuhl) ist nach einem One-Night-Stand schwanger, zufällig trifft sie ihren Aufriss im Aufzug wieder - dass die beiden tatsächlich zu einem Paar werden, beschließen sie mit derselben Beiläufigkeit, mit der sie dann gemeinsam ein Haus beziehen.

Die unangenehme Wahrheit von Stevers Film liegt vermutlich darin, dass es nicht wenige Menschen gibt, die auf ähnliche Weise ihre Zukunft verplanen. Indem sie ihren Protagonisten keinerlei Form der Ausgelassenheit gestattet - die beiden bewegen sich wie entschleunigt - und sie bisweilen ungelenke Dialoge in nüchtern-freundlichem Tonfall sprechen lässt, erzeugt die Regisseurin eine beklemmende Atmosphäre des Stillstands. Umsonst fragt man sich hier, warum sich das Paar dieses Leben überhaupt antut.

Die Antwort darauf fällt bei Velicanu (Vlad Ivanov), dem Helden aus Principles of Life (Principii de viatã), schon leichter. Constantin Popescu begleitet in dem für das neue rumänische Kino charakteristisch naturalistischen Stil durch einen Tag dieses Familienmenschen aus der Mittelschicht, an dem eigentlich nichts Bemerkenswertes geschieht.

Dennoch ist dieser Jedermann mit Kindern aus zwei Ehen und gut bezahltem, aber nicht eben stressfreiem Job ein lohnendes Objekt der Beobachtung: Man begegnet hier einem Mann, der zwar mit der Überzeugung auftritt, dass er sein Leben und seinen Wohlstand genießt. Doch es mangelt ihm an Sensibilität für die Bedürfnisse seiner Nächsten: Alles nervt, nichts gelingt.

Am Ende von Principles of Life steht so auch ein ziemlich drastisches Beispiel einer elterlichen Maßregelung, mit der Velicanu seine väterliche Autorität wiederherstellen will. Wenn man so will, kann man in dieser Alltagsparabel auch den beispielhaften Einsatz eines Mannes für ein Lebensmodell sehen, das im Westen längst als Standard gilt - und da gehört die Empörung, begonnen bei einem falsch geparkten Auto, eben auch dazu.

Ausgezeichnet wurde am Samstagabend bei Crossing Europe ein gegenläufiges Modell: Die deutsche Regisseurin Pia Marais beschreibt in Im Alter von Ellen die Eskapaden einer Stewardess, die aus ihrem Alltag aussteigt, um sich in anderen Milieus wie einer Tierschützergemeinschaft umzusehen. Marais teilte sich den Hauptpreis mit dem Spanier Lluis Galter, der in seinem reduktionistischen Geschichtsdrama Caracremada einen Anarchisten beobachtet, der nach dem Bürgerkrieg in den Wäldern ausharrt. (Dominik Kamalzadeh/DER STANDARD, Printausgabe, 18. 4. 2011)