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Zentralmatura per Multiple Choice: Bitte das Richtige ankreuzen! a) Schafft die Zentralmatura faire Bedingungen für alle? Oder bedeutet sie b) eine Nivellierung nach unten?

Foto: APA/dpa/Harald Schreiber

Auch Denken und eine eigene Meinung sind Kompetenzen. Ein Plädoyer gegen Standardisierung um jeden Preis. 

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Vor einiger Zeit fiel es mir zu, mich mit Renate Welsh, Präsidentin der IG Autorinnen Autoren, und anderen Kollegen um die angekündigte Reform der schriftlichen Deutschmatura zu kümmern. Es ging das Gerücht, der Bereich Literatur würde an den Rand gedrängt werden, wenn nicht gar verschwinden. In Englisch war die Umsetzung der neuen Reifeprüfung schon weiter gediehen, und die Aufgaben, in vielen Schulen zu Textzwecken bereits zentral vorgegeben, kamen damals ganz ohne Berührung mit der angelsächsischen Literatur aus.

Damit nicht genug: Der englischsprachige Kulturraum ist riesig. Als promoviertem Spezialisten für anglokaribische Literatur stieß es mir immer schon auf, dass dieser bunte Weltteil in gängigen Lehrwerken ziemlich ausgeblendet blieb. Nach der Reform wird Englisch, schließt man von der Schlussprüfung auf den vorbereitenden Unterricht, offenbar bloß noch als "lingua franca" verstanden, als schlichtes Vehikel zur Kommunikation. Man muss standardisiert über alles per Ankreuzen, Einsetzen oder in Einzelsätzen befinden können, was einem so vorgesetzt wird, eigene Gedanken der Prüflinge werden bei der Matura, wenn überhaupt, nur noch in einem einzigen kurzen Segment (Schreibkompetenz) geduldet, ein Kulturraum hinter der erlernten Sprache darf bestenfalls vermutet werden.

Folgerichtig beschäftigt sich z. B. die Abteilung "Language in Use" mit einem französischen Dorf, wo man neuerdings wieder mit Franc zahlen kann. Nach acht Jahren Englisch gilt es u. a. zu wissen oder zu erraten, ob der Euro nach Ansicht der Bäckerin Nathalie Lepeltier das Leben "more picturesque", "more careful" oder "more expensive" gemacht hat. Ein Abschnitt im "Listening Test" ist, wohl kaum aus interkulturellem Interesse, dem Thema Alkoholismus in Russland gewidmet. Man soll gleich einmal ankreuzen, ob alkoholabhängige Russen a) viel Medizin brauchen, b) alle Flüssigkeiten trinken, in denen sich Alkohol findet, c) einen starken Eau-de-Cologne-Verbrauch haben, d) nur Wodka und Bier trinken. Antwort b) ist richtig.

Dass die angelsächsische Welt in der Englischmatura vorkommt, ist aber nicht ausgeschlossen. Im "Reading Test" etwa erfährt man Nützliches über "The Most Powerful Women in Fashion". Neben Miuccia Prada in ihrem Mailänder Apartment, wo sie auch aufwuchs, kommen Modeschöpferinnen wie Delphine Arnault oder Donna Karan vor, die als "Long Island native" vorgestellt wird. Immerhin. Frage eins, die sich die Zentralmatura-AktivistInnen dazu ausgedacht haben, untersucht, welche der Damen ein Naheverhältnis zum Boss einer der berühmtesten Marken der Welt hat.

Alles supereinfach. Aber sonst?

Apropos Marken: Damit die KonsumentInnen im späteren Leben kompetent englischen Werbespots lauschen können, sind bei derselben schriftlichen Zentralmatura im Rahmen einer weiteren Hörverständnisübung die jeweiligen Slogans den Firmen Boots, Renault, Sky TV usw. zuzuordnen.

Alles supereinfach. Aber sonst? Und nun Deutsch. Mit dem Vorwissen zu Englisch begannen wir Ende 2009 Gespräche mit Josef Lucyshyn, Direktor des Bifie, des zuständigen Bundesinstituts für Bildungsforschung, Innovation und Entwicklung des österreichischen Schulwesens, sowie ExpertInnen der Arbeitsgruppe Deutsch.

Viel war von Kompetenzen, Objektivierung, Standardisierung und Vergleichbarkeit die Rede. Dem musischen Gymnasium mit Literaturschwerpunkt und der Elektrotechnikabteilung einer HTL sollen in Zukunft, so der Gesetzgeber, dieselben Aufgabenstellungen blühen, auch wenn Letztere weniger Deutschunterricht hat und keine Kenntnisse in Philosophie, Psychologie, Biologie, Musik oder Bildnerischer Erziehung vorausgesetzt werden dürfen, weil diese Fächer dort nicht unterrichtet werden. Weiters werde ein verbindlicher Textumfang festgesetzt, für Abweichungen jenseits eines relativ engen Korridors drohen Abzüge. Literaturthemen, gar Arbeiten in literarischer Form ließen sich in den Textsortenkatalog der neuen Reifeprüfung nur schlecht einordnen, wurde uns beschieden, denn ihnen wäre objektiv nur mit größter Mühe beizukommen. Dass jeder Maturajahrgang ein literarisches Wahlthema vorgesetzt bekäme, darauf wollte man sich nicht festlegen lassen.

Die IG Autorinnen Autoren hielt dagegen, dann müsse man wie in Englisch den Schwerpunkt auf Multiple-Choice-Aufgaben, Einsetzübungen und simple Kurzantworten legen, schließlich ließe sich kein längerer Text, der selbstständiges Denken beinhalten solle, objektiv beurteilen. Komme die Deutschmatura ohne Literatur aus, müsse man davon ausgehen, dass literarische Texte, Lehrplan hin, Lehrplan her, eine immer geringere Rolle im Unterricht spielen, und das vor dem Hintergrund der Pisa-Studien, wonach es mit dem sinnerfassenden Lesenkönnen in diesem Land nicht sonderlich weit her ist. Leseerziehung ist natürlich nicht nur Sache des Deutschunterrichts, und selbst an Gebrauchstexten lässt sich üben. Aber kann es wirklich Zweck der Deutschmatura sein, lediglich Leserbriefe, Erörterungen, Empfehlungen und ähnliche Textsorten anzubieten?

Seither ist viel geschehen oder auch nicht, es kommt auf die Perspektive an. In Ermangelung vernünftiger Koordination durch das Ministerium werken verschiedene Auftragnehmer an der neuen Reifeprüfung, ohne voneinander zu wissen, geschweige denn an einem Strick zu ziehen. Das gilt etwa für die schriftliche Matura in den Fremdsprachen und in Deutsch, aber auch innerhalb des Faches Deutsch selbst. Das Bifie hat mit dem mündlichen Teil nichts zu tun, also hat das mit dem schriftlichen betraute Klagenfurter Kompetenzzentrum für Deutschdidaktik wenig Ahnung, was anderswo ausgeheckt wird. Dazu kommt noch der Komplex der verpflichtenden vorwissenschaftlichen Arbeit, mit dem der Universitätsprofessor Werner Wintersteiner und sein Klagenfurter Team ebenfalls nichts zu schaffen haben.

2013/14 müssen die ersten Prüflinge die zentrale Deutschmatura ablegen, aber wie sie aussieht, wird noch länger unklar bleiben. Von Anfang an, so Wintersteiner, habe man dem Ministerium nahegelegt, keine voreilige Einführung festzusetzen. Schließlich bedürfe es intensiver Recherche, aussagekräftiger Testphasen und eines ausführlichen Feedbacks der Lehrerschaft, ehe die Textsorten, die Form der Aufgabenstellungen, die Korrekturhilfen usw. festgelegt werden könnten. Man stieß auf taube Ohren. Und so gibt es längst im ganzen Land verpflichtende Fortbildungsveranstaltungen für Deutschlehrkräfte, sogenannte Roadshows, bei denen die Vortragenden notgedrungen kaum Konkretes zu vermitteln wissen.

Mittlerweile scheint klar, so das Ergebnis der letzten Beratungen zwischen AutorInnen und BildungsexpertInnen, dass schriftlich drei Wahlpakete zu je zwei Texten unterschiedlicher Sorten angeboten werden. Eine der Optionen wird nun ein literarisches Thema beinhalten. Auch könne man sich mittlerweile sogar Kreativtexte vorstellen, wenn neben den Klassenlehrkräften Zweitbegutachter für ein gewisses Maß an Objektivierung Sorge tragen würden. Und ein Punktesystem werde es in Deutsch auch nicht geben.

Bildungsstandards schön und gut. Ich frage mich nur, ob die Fixierung auf Rankings, auf Fetische wie Vergleichbarkeit, Objektivierung, Kompetenz und ähnliche Modebegriffe nicht den Blick dafür verstellt, dass die dünnen inhaltlichen Angebote kompetenzorientierter neuer Englischbücher viele OberstufenschülerInnen nachhaltig frustrieren, dass die Geringschätzung des kulturellen Hintergrunds einer Sprache das Verständnis, die Offenheit für das Fremde schmälert, dass endloses Wiederkäuen mechanischer Maturaversuchsanordnungen oft als ermüdender Drill wahrgenommen wird, dass die Förderung selbstständigen Denkens, des kreativen Potenzials der Jugend den Mut erfordert, sich einzugestehen, nicht alles über einen Korrekturleisten schlagen zu können.

Die Anforderungen der alten Matura waren je nach Lehrperson unvertretbar unterschiedlich, die vollständige schriftliche Zentralmatura ist, glaube ich, aber nicht der Weisheit letzter Schluss. So ist sie wohl ein nützliches Instrument, in Fremdsprachen das Hörverständnis zu überprüfen. In vielen Bereichen aber schränkt sie ein. Dürfen künftig auch in Deutsch, wie offenbar für Englisch geplant, mündlich keine Textstellen mehr vorkommen, weil, so die kolportierte Begründung, die Sprech-, nicht die Lesekompetenz überprüft wird, ist es endgültig unmöglich, auf gemeinsam gelesene Texte einzugehen, ob sie von Shakespeare, Palahniuk, Goethe oder Röggla stammen.

Ja, über Bildung wird viel geredet im Moment. Aber es geht nicht nur ums Sitzenbleiben und um die gemeinsame Schule der Zehn- bis 14-Jährigen. Grundfragen sind auch: Wie viel Zwangs-Mainstream verträgt die Schule? Welchen Platz sollen Kunst und Kultur im Unterricht haben? Schließlich: Warum geht Österreich ein nationaler Bildungsplan ab, wie er in vielen Ländern Europas längst existiert? (Ludwig Laher, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 16./17. April 2011)