Badinter: "Vor zehn Jahren hat man in Europa keine einzige Frau mit Burka gesehen. Das ist eine neue Entwicklung, an die man die Gesetze anpassen musste.

 

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Standard: In der "New York Times" ist ein Artikel über die zunehmende Islam-Feindlichkeit in Europa erschienen, der sowohl das Schleierverbot in Frankreich als auch das geplante Verbot von Minaretten in der Schweiz als Beispiele anführt. Sehen Sie da Parallelen?

Élisabeth Badinter: Da gibt es nichts zu vergleichen. Ich bin erstaunt, dass eine angesehene Zeitung so etwas schreibt. Solche Verwirrungen liest man sonst nur in der Boulevardpresse. Selbstverständlich sollten die Muslime ihre Gebetsorte haben und Minarette bauen dürfen. Hier geht es um den Vollschleier, also darum, dass man sein Gesicht verdeckt. Normale Schleier, die das Gesicht freilassen, darf in Frankreich jede/r tragen. Die Frage ist doch, ob die Republik es zulassen soll, dass man sich auf ihrem Staatsgebiet das Gesicht verhüllt.

Standard: Aber sollte die Republik nicht den Frauen die freie Entscheidung überlassen, wie sie sich kleiden wollen?

Badinter: Also bitte ... es könnte doch genauso gut Sekten von verrückten AnhängerInnen der Freikörperkultur geben, die darauf bestehen, im Sommer nackt durch die Stadt zu laufen. Denen würde man auch sagen: Hier läuft man nicht nackt herum. Hier geht es ebenfalls um Sekten. Diese Frauen im Vollschleier stehen als Sinnbild für den Angriff von radikalen IslamistInnen, die nichts weiter wollen, als abzutasten, wie weit sie in unserer Gesellschaft gehen können. Die große Mehrheit meiner muslimischen Landsleute ist von dieser Diskussion nicht betroffen.

Standard: Sie würden also nicht sagen, dass der Islam frauenfeindlicher ist als andere Religionen?

Badinter: Sicher nicht. Alle drei großen monotheistischen Religionen sind frauenfeindlich. In dem Moment, in dem sie sich gegen die laizistischen Gesetze eines Landes auflehnen, werden sie zur Gefahr für die Freiheit, und zwar nicht nur für die Freiheit der Frau. Es gibt zurzeit mehrere Beispiele für die Gefahr von sich radikalisierenden Religionen. Ob das extrem orthodoxe Juden sind, die mehr Siedlungen in Palästina fordern oder protestantische Sekten, die in Amerika immer mehr Einfluss gewinnen; oder aber, ob das einige, meist salafitische islamische Sekten betrifft, die ihre religiösen über die demokratischen Gesetze stellen wollen - es geht immer um das Gleiche: Sie wollen ihre Auffassung von Recht über das Recht der Republik stellen. Dass die katholische Kirche etwa die Abtreibung ablehnt, ist legitim. Dass man versucht, seine Ablehnung der Gesellschaft aufzudrängen, ist illegitim. Ich denke nicht, dass der Islam und die Werte der Republik inkompatibel sind. Es geht lediglich um ExtremistInnen, die ihre Werte anderen Muslimen aufzudrängen versuchen. Es entsteht hier ein Missverständnis, dem sowohl extreme Linke als auch extreme Rechte immer wieder erliegen, nämlich der Verwechslung von Islam und Islamismus. Für die extreme Linke gibt es kein Problem: Der Islamismus stellt für sie keinerlei Gefahr dar, und wer das Gegenteil behauptet, ist ein Rassist. Und die extreme Rechte vermischt diese zwei Begriffe gerne, um dann behaupten zu können, dass der Islam mit der Republik nicht vereinbar sei.

Standard: Manche werfen dem Gesetz vor, es wäre eine Art Paternalismus des Staates gegenüber seinen Bürgerinnen, und dass sich der Staat nicht einmischen dürfe, was den Körper einer Frau betrifft.

Badinter: Es geht hier nicht um den Körper, sondern um das Gesicht. Das Gesicht ist das Zeichen der Identität einer Person. Stellen sie sich das perverse Vergnügen dieser Frauen vor, wenn sie die Aufmerksamkeit der anderen erregen, ohne gesehen zu werden. Das wirklich Perverse daran ist, dass sie sich das Recht nehmen, die Identität der anderen zu sehen, ihre eigene aber zu verstecken. Es gibt da keine Gegenseitigkeit, und das ist wohl der Gipfel der sozialen Unsittlichkeit.

Standard: Es gibt das Argument, dass diese Frauen durch das Verbotsgesetz nicht mehr aus dem Haus gehen werden und so noch mehr isoliert würden.

Badinter: Na und? Was sollen wir dagegen tun? Im Namen dieses idiotischen Arguments werden in Schwimmbädern geschlechtlich getrennte Öffnungszeiten eingerichtet, obwohl das gegen das Gesetz der republikanischen Gleichheit verstößt. Auch da hört man immer wieder: "Ja, aber sonst gehen ja diese Frauen gar nicht mehr ins Schwimmbad und werden total isoliert." Wen kümmert's? Diese Frauen isolieren sich doch selbst, in dem sie den Blickkontakt mit anderen verweigern! Na dann bleiben sie eben zu Hause. Deswegen werden wir nicht unsere republikanischen Gesetze ändern. In der Geschichte gibt es nur ein einziges Beispiel für eine Person, der es erlaubt war, ihr Gesicht zu verhüllen: Es war der Scharfrichter!

Standard: Gut, aber das Gesetz der Republik wurde in Frankreich ja gerade verändert, um das Verbot durchzusetzen.

Badinter: Vor zehn Jahren hat man in Europa keine einzige Frau mit Burka gesehen. Das ist eine neue Entwicklung, an die man die Gesetze anpassen musste.

Standard: Wäre es nicht wirkungsvoller, einen erzieherischen Dialog mit den Frauen zu führen, anstatt ein Gesetz zu erlassen? Viele dieser Frauen werden doch nicht freier sein, nur weil sie keinen Schleier mehr tragen dürfen.

Badinter: Wir sind doch nicht in Afghanistan! Hier bei uns können diese Frauen ohne Schleier auf die Straße gehen, wenn sie das wollen. Wenn sie allerdings so etwas wie ein Glücksgefühl der freiwilligen Unterwerfung verspüren, kann man es ihnen auch nicht mit Gewalt nehmen. Was die Erziehung und den Dialog betrifft: Daran wird seit Jahren gearbeitet, vor allem von Ärzten/Ärztinnen und KrankenpflegerInnen. Trotzdem wird es immer mehr zum Problem, dass Frauen sich weigern, sich vor männlichen Ärzten auszuziehen oder sich von ihnen angreifen zu lassen. Auf einigen Ämtern wollen sie sogar ihre Identitätspapiere erneuern, ohne den Schleier abzunehmen! Fast allen geht es dabei nur um eine Provokation, die durch keine Art von Pädagogik zu lösen ist. Darauf deutet auch hin, dass es sich bei einem geschätzten Drittel der 2000 Burka-Trägerinnen in Frankreich um Konvertiten handelt, die vom Christentum oder einer anderen Religion zum Islam übergetreten sind. Es gibt natürlich solche, die zum Tragen des Schleiers gezwungen werden. Auch ihnen hilft das Gesetz, zumindest dadurch, dass es denen, die behaupten, freiwillig zu handeln, den Schleier symbolisch verbietet.

Standard: Das Gesetz ist also nur symbolisch zu sehen?

Badinter: Durchaus. Schlimmstenfalls droht den Frauen ein Kurs über Gesittung. Oder sie bekommen 150 Euro aufgebrummt, aber das wird nicht gleich beim ersten Mal passieren.

Standard: Darum beschweren sich viele PolizistInnen und meinen, das Gesetz sei nicht durchsetzbar.

Badinter: Es ist nur dann nicht durchsetzbar, wenn man sich vor der Reaktion des Umfelds fürchtet. Aber das Gesetz existiert, um die ExtremistInnen daran zu erinnern, was unsere republikanischen, laizistischen Werte sind.

Standard: Haben Sie dann nicht Angst, dass das Ganze doch zu einem Kampf der Symbole wird, wie im Fall der Minarette? Sollte unsere Gesellschaft nicht stark genug sein, um jede Art von religiöser Symbolik auszuhalten?

Badinter: In diesem Fall gibt es überhaupt kein Problem mit religiösen Symbolen. Es geht darum, dass diese Frauen unsichtbar sind. Würden Sie so einer Frau ihr Kind übergeben, wenn sie es in der Schule abholen kommt? Diese ExtremistInnen wollen nur unsere Toleranzgrenze testen - und immer einen Schritt weitergehen.

Standard: Meinen Sie wirklich, die Regierung hatte nur gute Absichten, als sie das Gesetz beschloss? Sarkozys Regierung flirtet zunehmend mit ausländer- und islamfeindlichen Aktionen.

Badinter: Was dieses präzise Gesetz betrifft, kann ich keine schlechten Absichten erkennen. In anderen Themen, die Sarkozy aufgegriffen hat, wie etwa jenen über die französische Identität und über den Laizismus, sehe ich sehr wohl einen beunruhigenden Flirt mit den Ideen rechtsextremer Parteien und ein Schüren von Islamfeindlichkeit. Man darf das nicht verwechseln. Man darf nicht leugnen, dass sehr viele Frauen schockiert sind, andere Frauen zu sehen, die sich in schwarzen Gewändern verhüllen. Man sollte also keine Angst haben, als islamfeindlich dazustehen, wenn man ein Gesetz befürwortet, das uns an unsere gemeinsamen Werte und Regeln erinnert. Die überwältigende Mehrheit der Muslime in Europa sieht das genauso.

Standard: Viele der Muslime in Europa sehen sich aber auch zunehmend an den gesellschaftlichen Rand gedrängt und befürchten, dass sich das verschlimmert.

Badinter: Der Kampf gegen den radikalen Islamismus gehört genauso geführt wie jener zur Durchsetzung des Respekts für den Islam. Wie ich schon sagte: Der Islam ist durchaus mit den Werten der Republik und mit der Gleichberechtigung der Frau vereinbar - zumindest so vereinbar wie das Christentum. Deswegen hat es bis vor wenigen Jahren diesbezüglich auch niemals Probleme gegeben.

(Die Fragen stellte Georges Desrues, DER STANDARD, Printausgabe 16./17.4.2011)