Bild nicht mehr verfügbar.

Leonardo Sciascia nähert sich dem Geheimis von Majoranas Lebens- geschichte mit den Mitteln der Literatur, er lässt Shakespeares "Sturm" auf ziehen und sucht in kurzen Verszeilen nach den Ursachen für Majoranas existenzielles Erschaudern.

Foto: Sophie Bassouls/Sygma/Corbis

Im Frühjahr 1938 verschwand ein bedeutender italienischer Physiker, ohne auch nur eine unscheinbare Spur zu hinterlassen. Ettore Majorana, damals Anfang 30, galt als naturwissenschaftliches Genie. Er hatte ein Studium innerhalb kürzester Zeit abgeschlossen und sich bald der Forschung gewidmet.

Am römischen physikalischen Institut bei Enrico Fermi genierten sich die Kollegen in seiner Anwesenheit, einen Rechenschieber zu verwenden, denn Majorana rechnete im Kopf schneller und präziser als sie mit jedwedem Hilfsmittel. Über den Forschergeist am Institut hieß es: "Fermi und die Jungs suchten, während er einfach fand." Majorana, ein Sizilianer, war Einzelgänger, verschlossen, perfektionistisch. Seine Entdeckungen kritzelte er, ungeachtet ihrer Wichtigkeit, der Legende nach oftmals auf Straßenbahnfahrten nur hastig auf seine Zigarettenpackungen, die er dann bald wieder wegwarf.

Auch Majoranas Theorie des Atomkerns landete 1932 auf einer Schachtel Macedonia im Mistkübel. Er weigerte sich vehement, diese zu veröffentlichen. Als wenige Monate darauf der deutsche Physiker Heisenberg seine Kerntheorie publizierte, erklärte Majorana, zu diesem Thema sei alles, möglicherweise sogar schon "zu viel" gesagt worden.

Über Majoranas mysteriöses und bis heute ungeklärtes Verschwinden im Jahr 1938 wurden ebenso abenteuerliche wie absurde Vermutungen angestellt. Besonders hintergründig und inspirierend sind jene des sizilianischen Schriftstellers Leonardo Sciascia, die unter dem Titel Das

Verschwinden des Ettore Majorana (im Original: 1975 bei Einaudi, Turin) jetzt wieder auf Deutsch zu lesen sind.

Sciascias Überlegungen, die in früheren Übersetzungen sehr treffend als ein "philosophischer Kriminalroman" betitelt wurden, gleichen einer literaturgeschichtlichen und poetologischen Interpretation des "Falls Majorana". Da heißt es schon auf der zweiten Seite: "Wissenschaft und Poesie sind nur einen Schritt vom Wahnsinn entfernt", und die geheimnisvolle Figur des Ettore Majorana hatte diesen Schritt getan.

T. S. Eliot, Shakespeare, Montale, oder - um auf Sizilien zu bleiben - Pirandello werden hier auf famose Weise als literarische Paten eingeführt.

Sciascia, dessen umfangreiches Erzählwerk hierzulande gerne dem Genre der "Mafiakrimis" zugeschlagen wird, erzählt in diesem Buch, das sich als biografischer Aufsatz tarnt, die Geschichte eines außergewöhnlichen Mannes, die viele Möglichkeiten zu- und noch mehr Fragen offen lässt.

Hat Majorana die zerstörerische Kraft seiner Arbeit empfunden? Hat er die Atombombe und Hiroshima vorausgesehen? Hat er, der durch und für die Wissenschaft lebte, das "religiöse Schaudern" (Sciascia) vorausgelitten, an dem seine Wissenschaft eines Tages anlangen würde?

Sciascia, der Meister der intellektuellen Kriminalgeschichte, nähert sich dem Geheimnis dieser Lebensgeschichte mit den Mitteln der Literatur; er lässt Shakespeares Sturm aufziehen und sucht in kurzen Verszeilen nach den Ursachen für Majoranas existenzielles Erschaudern.

Zugleich ist Sciascia in diesem Buch als Schriftsteller ungewöhnlich präsent, fast vertraulich, ohne dabei seine ureigensten Themen, das mühsame Räderwerk der Justiz und die Grauzone, in der die Schuld eines Menschen zu verschwinden droht, aus den Augen zu verlieren. (Isaballa Pohl, DER STANDARD/ALBUM - Printausgabe, 16./17. April 2011)