Mittwochnacht habe ich davon geträumt, wie Josef Pröll zu einer großen Zahl von Medienvertretern sprach. Er stand an einem Rednerpult im Finanzministerium, räusperte sich, ordnete seine Manuskriptblätter und begann zu sprechen.

Aber er hat gar nicht - wie von vielen erwartet - seinen Rückzug aus der Politik angekündigt. Nein, er hat vielmehr betont, dass er bleiben wird.

Ja, er hat bestätigt, dass der beidseitige Lungeninfarkt ihm sehr zugesetzt habe und auch, dass er in den letzten Wochen viel nachgedacht habe, nämlich darüber, was wirklich zähle im Leben - und deshalb auch in der Politik.

Und dann hat er mit der Hand leicht aufs Rednerpult geschlagen und erklärt, dass er den vielen Menschen, die ihm in den letzten Wochen beigestanden seien, sehr dankbar sei, seiner Familie natürlich, aber allen voran den Rettungsmännern, die ihm sein Leben schenkten, dem ärztlichen und dem Pflegepersonal in der Klinik, die ihn so gut versorgt hätten und auch den Reinigungsfrauen, die täglich ganz früh und ganz still in seinem Krankenzimmer für Sauberkeit sorgten.

Wissen, was wirklich zählt

Deutlicher als zuvor habe er erkannt, dass diese Menschen die wirklichen Leistungsträger im Land seien und dass es hoch an der Zeit sei, dass die Politik dies erkenne und dafür sorge, dass diese und viele andere, die existenziell wichtige Sorgearbeit verrichten, dafür endlich angemessene Gehälter, optimale Arbeitsbedingungen und die Wertschätzung bekommen, die sie verdienten.

"Deshalb habe ich beschlossen, der Politik nicht den Rücken zu kehren, sondern vielmehr diese fundamental umzugestalten" hat er dann mit gewohnt kräftiger Stimme und mit entschlossenem Blick gesagt. Und unterstrichen, dass er auch erkannt habe, was im Leben das Wichtigste sei, die Gesundheit nämlich und die Familie, also das soziale Umfeld, zu dem natürlich auch Freunde, Nachbarn und Kollegen gehörten, und auch das würde zu anderen Prioritäten in der Politik dieses Landes führen, die umzusetzen notwendig und von höchster Dringlichkeit sei. Und da würde in Zukunft kein Stein auf dem anderen bleiben, denn die jetzige Politik orientiere sich viel zu wenig am guten Zusammenleben und habe es seit Jahren versäumt, die Bedingungen zu schaffen, die allen ein gesundes Leben im umfassenden Sinne und folglich physisches und psychisches Wohlergehen ermöglichen.

Und ja, ihm sei klar, dass viele ihn für nicht mehr fit genug hielten für diese Spitzenpositionen, die er weiterhin ausführen wolle, aber es müsse doch möglich sein, ja, es sei eigentlich sogar hochnotwendig, auch verantwortliche Positionen in der Politik so zu gestalten, dass sie weder gesundheits- und noch beziehungsschädigend wären.

Auch daran werde er - natürlich entsprechend unterstützt und auch entlastet von kompetenten Kollegen und Mitarbeitern - arbeiten. Alles andere sei doch absurd.

Und es könne doch auch nicht zum Besten des Landes sein, wenn dieses nur von den Fitten und Starken geleitet und gestaltet werde. Er habe jetzt, nach seinen Erfahrungen in den vergangenen Wochen, eine bessere Vorstellung davon, was das für jene bedeute, die weniger fit seien, die Hilfe bräuchten und die vieles tun und sich auch gerne einbringen würden, aber nicht können.

Er wisse jetzt auch, was es bedeute, mit seiner Existenz an einem seidenen Faden zu hängen, abhängig zu sein von der Fürsorge anderer und sich verlassen zu müssen auf ein funktionierendes soziales Netz und eine gute Versorgung.

Und dann hat der Vizekanzler und Finanzminister begonnen, ein erstes neues Programm vorzulegen, eine Skizze noch und auch noch nicht abgesprochen mit dem Koalitionspartner, aber doch schon mit ersten Vorschlägen für Maßnahmen, die dafür sorgen würden, dass sich die Politik im genannten Sinne verändere, diese Vorschläge, dass sei ihm durchaus bewusst, lägen ja schon lange auf dem Tisch und auch die Budgetmittel ließen sich finden, das hätte ja diese Allianz aus sozialen und Umweltorganisationen schon im Vorjahr aufgezeigt und sei auch ihm als Finanzminister natürlich sehr wohl bewusst und dann - bin ich aufgewacht. In der Realität: Josef Pröll hat alle politischen Ämter zurückgelegt.

Aufwachen ...

Das ist unter den gegebenen Umständen verständlich, vermutlich auch richtig und dafür gebührt ihm Respekt, denn es ist sicher nicht leicht, hohe politische Ämter und die damit verbundene Macht abzugeben und loszulassen. Und es hat ihm zu Recht viel Anerkennung und Lob gebracht, vom Gewerkschaftspräsidenten über die Stadtparteichefin bis hin zu den Postern auf Facebook, Twitter und den Seiten der Online-Medien.

Und trotzdem: Warum wurde in kaum einem der ersten Kommentare zu möglichen Ursachen und Konsequenzen des Pröll-Rücktritts zum Ausdruck gebracht, was dieser Schritt über unser politisches System aussagt?

Was es bedeutet, dass Politik nur von den hundertprozentig Fitten und Starken gestaltet werden kann? Wie es dazu kommen konnte, dass es als normal gilt, wenn der Gang in die Spitzenpolitik zum Raubbau an der eigenen Gesundheit führt und das Zusammenleben mit den Menschen, die einem nahe stehen, ungebührlich belastet, wenn nicht gefährdet?

Soll - und kann - so überhaupt eine Politik gemacht werden, die den Menschen dient? Und was wäre anders, wenn genau jene am Ruder wären - und blieben - die die ganz existenziellen Erfahrungen der Fragilität, des Krankseins und der Abhängigkeit kennen, reflektieren und ernst nehmen?

Hätten wir dann noch die gleiche Leistungsträgerdebatte? Würden Unterstützungsbedürftige dann weiterhin als Sozialschmarotzer stigmatisiert werden? Wäre anhaltendes Wirtschaftswachstum - um fast jeden Preis - weiterhin von so hoher Priorität? Oder würden wir - die verantwortungsbewussten Menschen und die verantwortlichen Politiker/innen gemeinsam in diesem Land - endlich beginnen, ernsthaft zu überlegen und zu verhandeln, wie wir gut miteinander leben können, und all das umzusetzen, was es dazu braucht?

... oder weiterschlafen?

Fragt sich nur: Wem unter den derzeit tätigen Politikern und Politikerinnen wäre es zuzutrauen und wer wäre in der Lage, eine solche Politik zu gestalten, die aktuellen Notwendigkeiten entspricht, sich ein gutes Leben für alle zum Ziel setzt und echte Zukunftsperspektiven schafft?

Oder glauben wir letztlich doch alle, dass es so etwas nur im Traum geben kann?

Dann: Gute Nacht!

Michaela Moser, Jg. 1967, Sozialexpertin und Theologin, ist Sprecherin der Armutskonferenz und Vizepräsidentin des Europäischen Armutsnetzwerks EAPN; 2010 erschien bei Zsolnay ihr zusammen mit Martin Schenk verfasstes Buch "Es reich! Für alle!".(Michaela Moser, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 15.4.2011)