Die Atomkatastrophe in Japan bildet eine tief gehende Zäsur: Die Menschheit hat mit dem Feuer gespielt - und sich verbrannt. Doch scheut das gebrannte Kind das Feuer? Nicht wirklich. Noch während der Katastrophe kündigen Russland, China und Indien an, weitere AKWs bauen zu wollen. Was tun? Wir brauchen eine "Ethik für die technologische Zivilisation" - so der Untertitel eines der wichtigsten Philosophie-Bücher des 20. Jahrhunderts. Im Jahr 1979 hat der Philosoph Hans Jonas sein Werk "Das Prinzip Verantwortung" veröffentlicht. Spätestens jetzt sollte dieses fast vergessene Buch auf dem Nachttisch der Menschheit liegen.

Die Zukunft hat keine Lobby

Die Menschheit ist an einem Punkt angelangt, an dem sie sich ihre eigene Lebensgrundlage zerstören kann und dies immer häufiger auch tatsächlich tut. Deshalb fordert Jonas eine „Zukunftsethik", die das Roulette-Spiel mit ungewissen Risiken eindämmt. Das Problem: Die Zukunft ist schlichtweg noch nicht da. Und deshalb hat sie, im Gegensatz zu den Energiekonzernen, keine Lobby. Denn solange die AKWs reibungslos funktionieren, kämpft man gegen Windmühlen. Wo kein Super-GAU ist, da ist auch keine Gefahr. Diese Logik gilt es aufzubrechen. Wir müssen der möglichen Katastrophe Gehör verschaffen. Zumal die Energiekonzerne weiterhin verkünden, dass ihre Atomkraftwerke absolut sicher seien und dass Japan eine bedauerliche Ausnahme sei. Aha. Wie beruhigend.

Panik-Mache? German Angst? Nein. „Der schlechten Prognose den Vorrang zu geben gegenüber der guten, ist verantwortungsbewusstes Handeln im Hinblick auf zukünftige Generationen. Denn man kann ohne das höchste Gut, aber nicht mit dem höchsten Übel leben", wie Jonas treffend feststellt. Ein Beispiel: Stellen wir uns die Folgen der Kernenergie als eine Art Glücksspiel vor, bei der sich die Wetteinsätze darin erschöpfen, dass wir Energie im Überfluss haben oder dass die gesamte Erde radioaktiv verseucht ist. Auf den Energie-Überfluss können wir verzichten. Mit dem höchsten Übel leben können wir nicht.

Denkt an Murphy

Wir brauchen eine pragmatische "Vermeidungsethik". Wenn uns die Risiken einer Technik bekannt sind, dann müssen wir stets das höchste Übel für möglich halten. Wenn etwas schiefgehen kann, dann geht es auch schief: Nach "Murphy's Law" müssen die AKWs weltweit schleunigst vom Netz. Regierungen und Wirtschaftskonzerne müssen Verantwortung übernehmen. Was heißt das überhaupt? "Verantwortung ist die als Pflicht anerkannte Sorge um ein anderes Sein", so Jonas.

Wenn wir einen Menschen in Not sehen, dann gebietet uns die Situation, dass wir alles Erdenkliche tun, um diesem Menschen zu helfen. Wer die Verantwortung verweigert, wird der "unterlassenen Hilfeleistung" angeklagt. Nun, die vom Menschen ausgeschlachtete Natur ist offensichtlich in einer solchen Notlage. Die Menschheit macht sich kollektiv der unterlassenen Hilfeleistung schuldig. Hätte die Natur eine Stimme, so würde sie mannigfach Strafanzeige gegen uns erstatten.

Jonas‘ Philosophie gipfelt in der Formulierung eines erweiterten Kategorischen Imperativs: "Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz echten menschlichen Lebens auf Erden." Ausschneiden, aufhängen, beherzigen! Dieser Imperativ sollte die weltweite Atomdebatte begleiten. Jedes AKW und jede Atombombe ist eine Bedrohung für den Fortbestand der menschlichen Spezies ... wir sollten es besser machen als die Viren. (derStandard.at, 13.4.2011)