Oliver Welter und seinen Popmelancholikern Naked Lunch aus Kärnten zerreißt es wieder einmal das Herz. Die Band präsentierte im Wiener Stadtsaal den Soundtrack zu Kafkas "Amerika".

Foto: Helmut Utri

Wien - "Und sie versprachen, mit ihm nach New York zu gehen und ihm alles Sehenswerte zu zeigen und ganz besonders natürlich jene Örtlichkeiten, wo man sich bis zum Seligwerden unterhielt. Und Robinson begann im Anschluß daran mit vollem Mund ein Lied zu singen, das Delamarche mit Händeklatschen begleitete und das Karl als eine Operettenmelodie aus seiner Heimat erkannte, die ihm mit dem englischen Text viel besser gefiel, als sie ihm je zu Hause gefallen hatte. So gab es eine kleine Vorstellung im Freien, an der alle Anteil nahmen, nur die Stadt unten, die sich angeblich bei dieser Melodie unterhielt, schien gar nichts davon zu wissen."

Franz Kafka zählt zwar im deutschen Dichterhain nicht zu jenen Kräften, die man gewöhnlich mit Popkultur verbindet, mit seinem nicht unbedingt humorlos geratenen 1927 erschienenen Romanfragment Amerika lieferte er allerdings schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen frühen heiter-nachtschwarzen Beitrag zur ewigen Verheißung, die der überlebensgroße Sehnsuchtsort "Amerika" von jeher zu versprechen vorgibt. Anhand des wie ein törichter Stummfilmschauspieler ins reale New York geworfenen Prager Maturanten Karl Rossmann zerlegt Kafka in seinem Stationendrama allerdings die klischeehaften Instant-Mythen der Freiheit, Weite, Grenzenlosigkeit mit einer im schrulligen Amtsdeutsch erzählten genüsslichen Konsequenz. "Real" ist bei Kafka, so wie bei jedem guten Popschriftsteller, ein relativer Begriff. Selbstverständlich muss man nicht im gelobten Land gewesen sein und dessen Schrecken erlebt haben, um darüber berichten zu können. Das Echte verbirgt oft das Wahre. Kafka ging zum Googeln ins Kino und entdeckte bei Keaton/Chaplin das Grauen hinter der Komödie.

Der Weg geht nach unten. Angefangen mit der großen Überfahrt des Karl Rossmann mit dem Heizer über den peniblen Kapitalistenonkel in New York bis zum Witwentröster in Connecticut und schließlich zur angedeuteten Höllenfahrt im "Naturtheater von Oklahoma": All diese Stationen werden derzeit in einer Bühnenbearbeitung und Inszenierung von Bernd Leopold-Mosser auch am Klagenfurter Stadttheater nachgezeichnet.

Die Musik dazu stammt von der Kärntner Band Naked Lunch. Gemeinsam mit Hauptdarsteller Robert Stadlober und einigen Ensemblemitgliedern, die ihre Verbundenheit zum Musical und zur Operette nicht immer verbergen wollten, stellte man nun im neuen Wiener Stadtsaal den auf CD erschienenen Soundtrack zu Amerika vor.

Wie die Faust aufs Auge

Die neun Lieder darauf zeigen, dass Songwriter Oliver Welter und das seit gut 20 Jahren aktive Quartett zu Kafka wie die Faust aufs Auge passen. Große pathetische Wehmut und Gemütsschwere trifft auf lichtlosen Existenzialismus, Größenwahnsinn auf Verzagtheit: Let Me Walk Upon The Water. Schwelgerische Chorgesänge jagen die amerikanischen Beach Boys an der windischen Grenze durch ein bisserl verdreht dastehende Abfahrtstore hinunter zum majestätischen Gleichmut der Jahrhundertnummer This Hell of Life. Im Fight Club reißt es Welter und Bassist und Produzent Herwig Zamernik dann zwischen schaumgebremstem In-dulci-Jubilo und punkigem Rockgeprügel das Herz auseinander.

Weiter abwärts: Tumble Down, absteigende Akkordfolge, abgefedert durch den Sound einer ächzenden Kirchenorgel. Irgendwann kracht der Gitarrenverstärker mit hübschem Splittergranaten-Halleffekt zu Boden. Der leere Kühlschrank hinter der Bühne ist für Rotwein dekantierende Solokabarettisten, nicht für eisgekühlte Rocker ausgelegt. Schlechte Laune. Karl Rossmann wurde längst vom reichen New Yorker Onkel davongejagt: "Bad days of misery ..." Oliver Welter droht dem Publikum, im Anschluss an das Konzert den Saal von außen versperren zu lassen. Herr Stadlober würde dann Amerika zur Gänze vortragen. Da kann man dann ruhig den Protagonisten aus der Erzählung Vor dem Gesetz als Glückskind bezeichnen. Zur Not frisst der Teufel Fliegen.

Schauspieler Erwin Windegger gibt mit streckbankgedehnten Stimmbändern den Lee Marvin auf der Suche nach seinem verstoßenen Neffen Nick Cave. Der Kühlschrank ist weiterhin leer. Noch viel lernen der junge Wiener Stadtsaal muss. Für den Rock 'n' Roll ist schlechte Laune wegen Dursts natürlich günstig. Amerika ist ein schrecklicher Ort. Oliver Welter hat selten gelacht. (Christian Schachinger/DER STANDARD, Printausgabe, 13. 4. 2011)