Wirtschaftsminister Reinhold Mitterlehner und Soziolge Emmerich Tálos beim 2+1 Reformgespräch.

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Standard: Wegen des Budgetdefizits wird mehr über die Effizienz des Sozialstaats diskutiert. Familienleistungen wurden zurückgefahren, in den Ländern wird im Sozialbereich gekürzt. Haben wir einen zu aufgeblähten Sozialstaat?

Mitterlehner: Die Kürzungen des Vorjahres im Familienbereich haben gezeigt, dass man nicht problemlos zurückfahren kann. Vor allem Familien mit geringen Einkommen kalkulieren Transferzahlungen in die Lebensplanung ein. Österreich liegt aber bei der Staatsausgabenquote noch immer über dem EU-Schnitt. Daher ist es nötig, die Effizienz des Systems zu überprüfen. Dazu soll auch die Transparenzdatenbank beitragen. Das Thema muss man allerdings sehr sensibel angehen.

Standard: Herr Tálos, Sie haben vor neun Jahren das Sozialstaatsvolksbegehren mitinitiiert. Da ging es um den Wunsch nach mehr Sozialstaat. Ist er heute ineffizient?

Tálos: Jede Leistung muss nach ihrer Effizienz hinterfragbar sein. Nehmen wir das Beispiel Hacklerregelung. Das ist eine Leistung, von der wir sagen können: Die ursprünglichen Ziele werden nicht mehr erreicht. Aber nur, weil einzelne Leistungen nicht mehr das Ziel erreichen, kann man nicht sagen: Der Sozialstaat ist aufgebläht. Er ist unumgänglich notwendig zur Sicherung von Teilhabechancen in unserer Gesellschaft. Zudem gilt es zu differenzieren: Finanzierungsprobleme resultieren u. a. aus der demografischen Entwicklung und geänderten Arbeitsmarktbedingungen. Der Grund für aktuelle Sparpakete ist aber das enorme Desaster des Finanzkapitals. Allein die verstaatlichte Kärntner Hypo kostete 2010 so viel wie die Mehrausgaben für die Mindestsicherung für zwei Jahre.

Mitterlehner: Einspruch. Ich sehe schon einen klaren Zusammenhang zwischen Wirtschaftsentwicklung und Finanzierbarkeit des Sozialsystems. Vieles - Pensions-, Gesundheits- und Arbeitsmarktsystem - ist auf Beiträge und damit auf die Beschäftigtensituation aufgebaut. Das Problem ist: Wenn die Einnahmen zurückgehen, haben wir keine adäquate Möglichkeit, die Ausgaben im Griff zu behalten. Die Finanzkrise hat vielleicht teils mitgespielt. Aber nicht umsonst wird in England diskutiert, Sozialversicherungsbeiträge abzuschaffen und die Finanzierung aus dem Steuersystem vorzunehmen.

Standard: Wäre das auch ein Ansatz für uns?

Mitterlehner: So weit sind wir noch nicht. Dann würden wir vielleicht die wirkliche Problemsicht, wo es in den einzelnen Bereichen Schwierigkeiten gibt, verlieren.

Tálos: Bis 2007 waren wir beim Budget gut unterwegs, dann ist das Defizit hinaufgeschnellt. Nicht wegen des Sozialstaats, der wurde in den letzten 20 Jahren mehrmals abgebaut. Bei der Finanzierung des Sozialstaates ist noch immer die Lohnsumme der Maßstab für Unternehmensbeiträge. Wir brauchen eine Erweiterung um andere Bestandteile der Wertschöpfung wie Gewinne, aber auch die Berücksichtigung von Vermögenszuwächsen.

Mitterlehner: Das passiert sowieso durch die Besteuerung der Aktiengewinne, der Zinserträge und der Teilfinanzierung der Sozialsysteme aus Steuergeld. Die Umverteilung nimmt ständig zu. Das generelle Problem ist aber: In der Krise haben wir die Familienleistungen beträchtlich erhöht, wir wollten den Inlandskonsum stützen. Nach der Krise möchte dann aber niemand eine Korrektur haben.

Standard: Sie haben auch von einer Kehrtwende in der Familienpolitik gesprochen. Weg von Geld-, hin zu Sachleistungen, also zum Beispiel Kinderbetreuungsplätze.

Mitterlehner: Da wurde ich missverstanden. Ich will keine Geldleistungen kürzen. Wir brauchen beides: Geld- und Sachleistungen. Es geht um eine langsame Verschiebung des Gewichtes, indem die zusätzlichen Mittel in Sachleistungen gehen.

Standard: Die Regierung bejubelt die Mindestsicherung. Trotzdem gibt es eine Million Armutsgefährdete, 250.000 davon haben einen Job. Haben wir also ein Riesenproblem?

Mitterlehner: Das ist immer eine Definitionsfrage. Relativ gesehen liegen wir bei der Absicherung im europäischen Spitzenfeld. Das ist aber kein Anlass zu tatenloser Selbstzufriedenheit. Wir haben die Mindestsicherung gut aufgestellt, weil sie an die Bereitschaft zu arbeiten anknüpft. Ich bin auch gegen ein arbeitsloses Grundeinkommen.

Tálos: Es wäre wunderbar, in einer Gesellschaft zu leben, in der wir uns ein solches Modell leisten könnten. Nur, es ist zur Zeit politisch nicht realisierbar. Was heute ansteht: Wir brauchen einen Diskurs, wie Menschen mit keinem oder geringem Einkommen überleben können. Die Mindestsicherung ist ein erster Schritt, aber noch nicht das Ende des Weges. Denken Sie nur an das Niveau von rund 750 Euro im Monat, das ist untauglich. Die Armutsgefährdungsschwelle nach EU-Berechnungen lag schon 2008 bei 994 Euro.

Mitterlehner: Wenn wir die anderen Budgetprobleme besser im Griff haben, wird man darüber sicher diskutieren. Ich bin Anhänger der sozialen Marktwirtschaft. Derjenige, der im Spiel Angebot und Nachfrage nicht vorbehaltslos mitspielen kann, bekommt vom Staat die Absicherung. Man braucht aber auch eine Spreizung zwischen Mindestsicherung und Erwerbseinkommen, weil ich sonst niemanden anrege zu arbeiten.

Standard: Dann brauchen wir aber höhere Mindestlöhne.

Mitterlehner: 1000 Euro sind fast überall umgesetzt, jetzt werden 1300 diskutiert. Das muss man aber den Kollektivvertragsverhandlern überlassen und kann nicht staatlich angeordnet werden.

Tálos: Die Anhebung ist unumgänglich notwendig, allein reicht sie nicht. Was nutzt es, wenn wir 1300 Euro Mindestlohn einführen, und sie kriegen nur einen Job mit 15 Stunden? Dass das System lahmt, sehen wir auch daran, dass rund 70 Prozent der Ausgaben der Sozialhilfe in Wien für Richtsatzergänzungen ausgegeben werden, weil viele nichts oder zu wenig verdienen und zu geringe andere Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld haben.

Standard: Oder man muss sich nur anschauen, wie wenig ältere Beschäftigte es in Österreich gibt.

Tálos: Richtig, 85 Prozent der Betriebe wissen nicht, wie sie ältere Menschen im Betrieb halten sollen. Sie vertun so ihre Zukunft. In fünf Jahren wird mehr als die Hälfte der Beschäftigten älter als 45 Jahre sein. Das geläufige Traumanforderungsprofil: 22 Jahre, zwei Ausbildungen und fünf Jahre Berufserfahrung funktioniert in Zukunft noch weniger.

Standard: Was kann die Politik dagegen tun? Bei uns wird immer nur über das Pensionsalter geredet.

Mitterlehner: Ja, dieses Thema wurde vernachlässigt. Die Betriebe hatten den Eindruck, sie könnten beliebig junge, gut ausgebildete Leute bekommen. Die Gefahr ist, dass man den demografischen Wandel verschläft. Schauen Sie sich nur an, wie wenig sich Leute im höheren Alter weiterbilden. Hier müssen die Betriebe ansetzen.

Standard: Ist das nicht etwas wenig, nur auf Umdenken zu hoffen?

Mitterlehner: Wir müssen nicht mehr mit Förderungen agieren. Der Leidensdruck wird die Unternehmen rasch zwingen umzustellen. Sie müssen Anreize schaffen, damit jemand länger im Betrieb bleibt und nicht die erstmögliche Gelegenheit der Pension ergreift.

Tálos: In Schweden und Finnland arbeiten auch deswegen viele ältere Menschen, weil dort neben Bildung viel für Gesundheit in Betrieben getan wird. Und die Produktionsabläufe werden an das Alter angepasst. Ein Ansatz in Österreich war, dass Arbeitnehmer ab einem bestimmten Alter keine Beiträge für die Arbeitslosenversicherung mehr zahlen müssen.

Mitterlehner: Wir tun bei der Gesundheitsförderung ja immer mehr. Bei der Arbeitslosenversicherung nehmen wir einen Teil zurück, weil sonst ein immer kleinerer Mittelbau alles finanzieren müsste.

Standard: Zur Pflege: Bis 2014 sollen die Kostensteigerungen über einen 700 Mio. Euro schweren Pflegefonds gedeckt werden. Was kommt danach, eine allgemeine Pflegeversicherung?

Tálos: Ein Versicherungssystem wäre nur wieder mit einer Verteuerung des Faktors Arbeit verbunden, daher ist eine Fondslösung, bezahlt aus Steuern, besser. Die Frage ist nur, ob man zur Finanzierung nicht auch Vermögenssteuern heranziehen muss.

Mitterlehner: Die Lohnnebenkosten dürfen auf keinen Fall steigen. Eine von uns eingesetzte Arbeitsgruppe wird dazu Vorschläge machen. Generell sehe ich die Tendenz, dass man das Alter im Bereich einer generationenübergreifenden Hausgemeinschaft verbringen möchte und nicht in Heimen. Daher werden auch die Themen "Barrierefreie Wohnmöglichkeiten" aktuell. Wir sollten nicht nur über thermische Sanierung reden, sondern als Staat vielleicht auch in die Richtung gehen: Wie kann man altersgerechtes Wohnen fördern? Auch die Wohnbauförderung könnte ein Ansatzpunkt sein. Es geht aber nicht nur um finanzielle Unterstützung, auch Sachleistungen sind Thema. (Günther Oswald, DER STANDARD; Printausgabe, 12.4.2011)