Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, und Vertrauenswürdigkeit scheinen in Österreich zu knappen Gütern zu werden. Reicht die Wiener Stadthalle noch aus, um darin all die Manager, Geschäftsleute und "Lobbyisten" unterzubringen, die ihren Mangel an Anständigkeit hinter dem Feigenblatt der Unschuldsvermutung zu verstecken versuchen? Wie kommt es zu diesem Verfall der guten Sitten, dieser Erosion von ehrenhaftem Verhalten?

Selbstverständlich ist die Familie die erste Instanz der Vermittlung dessen "was sich gehört". Die Erziehungskraft von modernen Familien hat jedoch in den letzten Jahrzehnten stark abgenommen; gleichzeitig sind die Erwartungen gestiegen dass die Institution Schule für "gutes Benehmen" sowie das Erlernen von Fairness, Gerechtigkeit und Anstand sorgen möge. - Was können Schulen und Universitäten tun, um diese Tugenden zu bekräftigen und den "Kavaliersdelikten" der Erwachsenenwelt den moralischen Nährboden zu entziehen?

Eine Frage der Ehre

Nun, sie sollten sich zum Beispiel die Frage stellen, wie sie es mit Schwindeln und Schummeln, d. h. dem Vortäuschen von eigenen Leistungen und dem unlauteren Erwerb von darauf beruhenden Aufstiegs- und Zugangsberechtigungen halten. Gilt Schwindeln als unvermeidliche Begleiterscheinung von Schule und Studium, ein am besten heruntergespieltes geringfügiges Ärgernis wie "witzige" Graffiti im Schulklo, oder ist es ein Bruch des Vertrauensverhältnisses zwischen Schülern und Lehrern und Ausdruck eines gravierenden Defizits an Ehrlichkeit und Fairness, das von Schule und Uni ernsthaftes und konsequentes Vorgehen verlangt?

Ich halte seit vielen Jahren Großvorlesungen für Lehramts-Studierende, an deren Ende Prüfungen mit relativ großen Gruppen von Prüflingen unvermeidlich sind. Ich beginne die Prüfungen in der Regel mit folgendem Appell: "Sie sind angehende Lehrerinnen und Lehrer, die in ihrem zukünftigen Berufsleben Schülerinnen und Schülern Werte und Normen wie Fairness, Anstand, Gerechtigkeit und Ehrlichkeit beibringen sollen. Ich halte es unter ihrer und meiner Würde, "Invigilatoren" beizuziehen, welche mit mir die Prüfung beaufsichtigen. Ich appelliere vielmehr, wie dies bei Prüfungen in vielen ausländischen Universitätssystemen der Fall ist, an ihre Ehre: Wer hier im Raum verbleibt, gibt mit seiner/ ihrer Anwesenheit sein/ihr Ehrenwort, weder aktiv noch passiv zu schwindeln. Es sind keine Hilfsmittel zulässig. Wer diese Abmachung verletzt, hat mit Sanktionen zu rechnen."

Die üblichen Reaktionen darauf sind, nach einer gewissen Belustigung, Ernüchterung und Nachdenklichkeit. Manche Studierende machen allerdings den Eindruck der völligen Verständnislosigkeit. Was will der Alte? Was soll denn "Ehrenwort" heißen? Fehlt gerade noch, dass er mit dem Verbot der Unkeuschheit kommt! Sie bleiben und versuchen das zu tun, was sie anscheinend in ihrer Sekundarschulzeit nicht selten praktiziert, ja es darin vielleicht sogar zu einer gewissen Meisterschaft gebracht haben: Sie schwindeln, entweder konventionell mit mehr oder weniger raffiniert vorbereiteten Zetteln, oder mit Smartphones, von denen Fragen an Kollegen außerhalb der Unit abgeschickt und retournierte Antworten abgelesen werden.

Dabei erwischt und zur Rede gestellt gibt es in der Regel nicht mehr als ein Achselzucken. Bad luck, hat diesmal halt nicht geklappt. Die Schwindler sind anscheinend völlig desensibilisiert für die Unehrenhaftigkeit ihres Verhaltens; von Schande, Peinlichkeit oder Schämen vor den Kommilitonen keine Spur. Möglicherweise wissen sie, wie lachhaft die "Sanktionen" sind, die das Studiengesetz oder die Satzung der Universität Wien (§13, Abs 7) für Schwindeln bei Prüfungen vorsieht. "Prüfungen, bei denen unerlaubte Hilfsmittel verwendet werden, sind nicht zu beurteilen." Und damit hat es sich auch schon. Kein Disziplinarverfahren, keine mahnende Belehrung über den universitären "Ghört-sich", keine explizite Verpflichtung auf die Einhaltung des akademischen Ehrenkodex. "Bestraft" wird vielmehr der Dozent, der die zusätzliche Arbeit hat, für den Missetäter neue Prüfungsfragen ausarbeiten und einen neuen Prüfungstermin finden muss. Österreichische Studierende sind mit diesem laxen Umgang mit vorgetäuschten Lernleistungen von ihrer Sekundarschulzeit her vertraut. Im Schulunterrichtsgesetz, herrscht dasselbe sanktionslose Laissez-faire .

Andere Länder, andere Sitten

In Ländern wie den USA, den Niederlanden, Japan und Schweden nimmt man die Verletzung des für Studierende geltenden Ehrenkodex viel ernster. Schwindler werden nicht bloß vor eine Disziplinarkommission zitiert und über die Unehrenhaftigkeit ihres Fehlverhaltens belehrt; vielfach wird nicht nur die eine Prüfung für nichtig erklärt, bei der geschwindelt wurde, sondern alle in diesem Jahr bereits erbrachten anderen Prüfungsleistungen. Man erhält zwar in der Regel eine zweite Chance, aber um den Preis der Aberkennung eines Studienjahres. In diesen Ländern ist Schwindeln nichts, womit man sich bei Maturajubiläen als Teufelskerl brüstet, sondern ein sozial geächtetes Fehlverhalten.

Als ich vor einigen Semestern bei einer Prüfung im Audimax den oben erwähnten Appell beendet hatte, tuschelten drei weit hinten sitzende Studenten miteinander, standen auf und verließen den Saal. Als ich fragte, was los sei, antworteten sie treuherzig, sie seien mit der Absicht gekommen zu schwindeln, nach meiner "Moralpredigt" würden sie es jedoch lieber lassen. Ich rief ihnen nach "Ihr seid noch zu retten" und sie mögen nach der Prüfung auf mich warten. Sie warteten tatsächlich, und wir gingen in ein Kaffeehaus. Sie gaben mir Einblick in ihren gestressten studentischen Alltag, ich erklärte ihnen meine Vorstellungen von intellektueller Redlichkeit. Wir trennten uns in freundlichem Einvernehmen. Beim nächsten Termin setzten sie sich demonstrativ grinsend in die erste Reihe und bestanden die Prüfung tadellos.

Schwindeln ist nicht angeboren, es gibt kein Schummel-Gen. Schwindeln ist vielmehr ein erlerntes soziales Fehlverhalten, dessen Nährboden eine schlampige Schulmoral ist. Schulen und Unis, die ihren Bildungsauftrag ernst nehmen, können sich nicht augenzwinkernd oder achselzuckend über angemessene Gegenmaßnahmen hinwegschwindeln. (Karl Heinz Gruber, DER STANDARD, Printausgabe, 9./10.4.2011)